Das Glück der Familie Rougon - 1
sich von ihren Geschäften zurückgezogen haben, die Rechtsanwälte, die Notare, die ganze kleine Welt der Wohlhabenheit und des Ehrgeizes, die die Neustadt bevölkert, bemüht sich, Plassans etwas Leben zu geben. Sie gehen zu den Abendgesellschaften des Herrn Unterpräfekten und wünschen sehnlichst, selbst ähnliche Feste zu veranstalten. Sie machen sich gern beim Volk beliebt, reden den Arbeiter mit »mein Bester« an, sprechen mit den Bauern von der Ernte, lesen die Zeitungen, zeigen sich am Sonntag mit ihren Damen. Das sind die fortgeschrittenen Geister der Stadt, die einzigen, die es sich erlauben, mit Lachen von den Festungswällen zu sprechen. Sie haben sogar mehrmals von den »Ädilen«17 das Schleifen dieser alten Mauern, dieser »Spuren einer anderen Zeit«, gefordert. Andererseits werden die Aufgeklärtesten unter ihnen von lebhafter Freude bewegt, sooft ein Marquis18 oder ein Graf sie eines leichten Grußes zu würdigen geruht. Der Traum eines jeden Bürgers der Neustadt geht nämlich dahin, Zutritt zu einem Salon des Saint MarcViertels zu erhalten. Sie wissen genau, daß sich dieser Traum nicht verwirklichen läßt, und darum schreien sie so laut, sie seien Freidenker – Freidenker freilich nur mit dem Mund, große Freunde der Obrigkeit und bereit, sich beim geringsten Grollen des Volkes dem erstbesten Retter in die Arme zu werfen.
Die Menschengruppe, die in der Altstadt arbeitet und ein elendes Leben führt, ist nicht so deutlich zu bestimmen. Das Volk, die Arbeiter, sind dort in der Überzahl; aber es gibt da auch die Kleinhändler und sogar einige Großhändler. Tatsächlich aber ist Plassans weit davon entfernt, ein Handelszentrum zu sein; es wird nur gerade so viel Handel getrieben, wie nötig ist, um die einheimischen Erzeugnisse – Öl, Wein, Mandeln – loszuschlagen. Was die Industrie betrifft, so ist sie lediglich durch drei oder vier Gerbereien vertreten, die eine der Straßen der Altstadt verpesten, ferner durch Filzhutmanufakturen und durch eine Seifenfabrik, die in einen Winkel der Vorstadt verbannt ist. Wenn diese kleinen Leute aus Handel und Industrie auch an hohen Festtagen die Bürger der Neustadt besuchen, so leben sie doch vornehmlich unter den Arbeitern der Altstadt. Kaufleute, Kleinhändler und Arbeiter haben gemeinsame Interessen, die sie zu einer einzigen Familie zusammenschließen. Nur am Sonntag waschen sich die Brotherren die Hände und bleiben unter sich. Das Arbeitervolk, das kaum ein Fünftel der Einwohnerschaft ausmacht, verschwindet überdies unter den Müßiggängern des Städtchens.
Ein einziges Mal in der Woche, und zwar nur während der schönen Jahreszeit, begegnen sich die Bewohner aller drei Stadtteile von Plassans. Sonntags nach der Vesper19 begibt sich die ganze Stadt auf den Cours Sauvaire, selbst die Adligen wagen sich heraus. Doch bilden sich auf dieser Art von Boulevard, der mit zwei Doppelreihen von Platanen bepflanzt ist, drei wohlunterschiedene Ströme von Spaziergängern. Die Bürger der Neustadt gehen nur einmal über den Cours Sauvaire, kommen durch die Grand˜Porte und biegen dann rechts in die Avenue du Mail ein, auf der sie bis zum Einbruch der Nacht auf und ab wandeln. Unterdessen teilen sich Adel und Volk den Cours Sauvaire. Seit länger als einem Jahrhundert hat der Adel die Südallee gewählt, die von einer Reihe Herrenhäuser begrenzt wird und am frühesten Schatten bekommt. Das Volk mußte sich mit der anderen, der Nordallee, begnügen, an der die Cafés, die Gasthäuser, die Tabakläden liegen. Und den ganzen Nachmittag über promenieren Volk und Adel den Cours Sauvaire auf und ab, ohne daß es jemals einem Arbeiter oder einem Adligen in den Sinn käme, die Allee zu wechseln. Nur sechs oder acht Meter trennen sie, und doch bleiben sie tausend Meilen voneinander entfernt. Gewissenhaft folgen sie zwei gleichlaufenden Bahnen, als sollten sie auf dieser Welt hinieden einander niemals begegnen. Selbst zu Umsturzzeiten hat jeder seine Allee beibehalten. Diese ordnungsgemäße Sonntagspromenade und das abendliche Verschließen der Stadttore sind Tatsachen, die derselben Denkungsart entspringen und zur Beurteilung der zehntausend Seelen dieser Stadt genügen.
In dieser eigentümlichen Umwelt fristete bis zum Jahre 1848 eine obskure und wenig geachtete Familie ihr Dasein, deren Oberhaupt, Pierre Rougon, später dank gewisser Umstände eine wichtige Rolle spielen sollte.
Pierre Rougon war Bauernsohn. Die Familie seiner Mutter, die Fouques, wie man
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