Das Glück der Familie Rougon - 1
der SaintMittreHof und die SaintMittreSackgasse.
Das alles liegt schon weit zurück. Seit mehr als dreißig Jahren hat der SaintMittreHof bereits sein eigenes Gesicht. Die Stadt, viel zu sorglos und zu verschlafen, um aus dem Gelände Nutzen zu ziehen, hat es gegen ein geringes Entgelt an einige Stellmacher aus der Vorstadt verpachtet, die es als Holzhof verwenden. Noch heute machen riesige, zehn bis fünfzehn Meter lange Stämme, die hier und dort, in Haufen geschichtet, wie Bündel hoher, zu Boden gestürzter Säulen herumliegen, den Platz unwegsam. Diese Stapel von mastbaumähnlichen, parallel nebeneinanderliegenden Stämmen, die sich von einem Ende des Geländes zum andern hinziehen, bilden eine Quelle unerschöpflicher Freude für die Gassenjungen. Da einzelne Stämme heruntergeglitten sind, ist der Boden stellenweise vollständig wie mit einer Art Parkett aus runden Hölzern bedeckt, über das man nur mit an Wunder grenzenden Gleichgewichtskünsten laufen kann. Den ganzen Tag üben sich Scharen von Kindern in dieser Fertigkeit. Man sieht, wie sie über die dicken Bohlen springen, im Gänsemarsch über schmale Grate balancieren oder rittlings darauf entlangrutschen. Diese abwechslungsreichen Spiele enden gewöhnlich mit Prügeleien und Tränen. Manchmal setzt sich auch ein Dutzend Kinder eng aneinandergedrängt auf das dünne Ende eines Stammes, das einige Fuß über dem Boden schwebt, und schaukelt sich stundenlang auf und nieder. So ist der Saint MittreHof nach und nach zu einem Spielplatz geworden, auf dem seit einem Vierteljahrhundert die Hosenböden sämtlicher Vorstadtjungen durchgescheuert werden.
Ein vollends seltsames Gepräge haben diesem verlorenen Winkel die umherziehenden Zigeuner gegeben, die nach altem Brauch hier ihre Wohnstätte aufschlagen. Sobald eines dieser fahrbaren Häuser, die stets eine ganze Sippe beherbergen, nach Plassans kommt, macht es ganz hinten im SaintMittreHof halt. Daher ist der Platz niemals verwaist; immer haust dort irgendeine sonderbare Bande, eine Rotte wild aussehender Männer und entsetzlich dürrer Weiber, und zwischen ihnen sieht man ganze Scharen schöner Kinder sich auf dem Boden wälzen. Dieses Völkchen lebt ohne Scheu vor aller Augen unter Gottes freiem Himmel, kocht sein Mahl im eisernen Kessel, nährt sich von Dingen, die man nicht bezeichnen kann, breitet seine durchlöcherten Lumpen aus, schläft, prügelt und küßt einander und stinkt vor Schmutz und Elend.
So ist aus der öden und leblosen Stätte, wo einst nur die Hummeln in der drückenden Stille der Sonnenglut um die fetten Blumen summten, ein geräuschvoller Ort geworden, erfüllt vom Gezänk der Zigeuner und dem schrillen Geschrei der jungen Taugenichtse aus der Vorstadt. Ein Sägewerk, das in einer Ecke die Stämme für den Zimmerplatz zurichtet, dient mit seinem grellen Knirschen den Stimmen als ständige Baßbegleitung. Dieses Sägewerk ist ganz primitiv: das zu schneidende Stück Holz wird über zwei hohe Böcke gelegt, und zwei Brettschneider, von denen der eine oben auf dem Stamm steht, der andere unten, am Sehen gehindert durch das herabfallende Sägemehl, zwingen ein breites, starkes Sägeblatt zu einer ständigen Hinundherbewegung. Stundenlang beugen sich die beiden Männer mit automatischer Regelmäßigkeit und Unempfindlichkeit auf und nieder, wie zwei Marionetten. Das zugerichtete Holz wird an der hinteren Mauer in Stapeln von zwei bis drei Meter Höhe Brett für Brett sauber und ordentlich zu tadellosen Würfeln aufgeschichtet. Diese Art viereckige Meiler, die dort oft mehrere Jahre liegenbleiben und am Boden vom Gras angenagt werden, zählen zu den Reizen des SaintMittreHofes. Sie schaffen geheimnisvolle schmale und verschwiegene Pfade, die zu einem breiteren Weg zwischen den Holzstößen und der Mauer führen. Hier ist eine Wildnis, ein Streifen Grün, von dem aus man nur hier und da ein Stückchen Himmel sieht. In diesem Gang an der mit Moos bewachsenen Mauer, dessen Boden von einem dicken und dichten Wollteppich bedeckt zu sein scheint, herrschen noch der üppige Pflanzenwuchs und die schaudererregende Stille des einstigen Friedhofs. Man spürt hier das Wehen des heißen, kaum merklichen Hauchs wollüstiger Verwesung, der aus den von der Sonnenglut durchwärmten alten Gräbern steigt. In der ganzen Umgebung von Plassans gibt es keinen Ort, der mehr von innerem Leben aufgewühlt wäre, mehr durchzittert von Wärme, Einsamkeit und Liebe; und dort ist es köstlich zu lieben. Als der
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