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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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jeder Revue. Das Zurechtziehen, die Stille, das Verschlossene, das alle hatten, wenn sie sich kurz vorm Auftritt konzentrierten, nur das Atmen und Gehen, und dann das Spiel. Manchmal Annas Kichern, wie sie bis zur letzten Sekunde beim Frisieren saß, stundenlang, wenn nötig, Strähne für Strähne, das Haar im Brenneisen, die richtige Hitze, der Augenblick, bevor es verbrannte, sie hatte die Sekunde im Blut, und damit bourgeoise Locken, wie sie verkündete. Annas Kichern war hier konserviert. Und Pjotrs Rauchen. Im Stehen, den Ellenbogen in die Hüfte gedrückt, wie eine Frau. Und Rems Schweigen, seine demütige Aufmerksamkeit, wenn er vom Klavierstuhl aus die Anweisungen in sich aufnahm, nie an Ottos Kritik zu verzweifeln schien, sie hinunterschluckte und versuchte, sich beim nächsten Versuch selbst zu übertreffen. Sie wollte Ottos Schonungslosigkeit, sie wollte den Raum, in dem sie eine andere sein konnte, sie wollte hierbleiben. Den Dielenboden, das unebene Holz unter ihren Sohlen spüren. Sie wollte alle Kraft in die Beherrschung ihres Körpers legen, dieses raumfüllende Bewußtsein haben, das sie auf einer Bühne hatte, wenn sie um jedes Blinzeln, jede Nuance ihres Blicks, um jede Nähe und Ferne aller anderen wußte. Geschärfte Konturen, kein Verschwinden. Sie wünschte, sie könnte das alles hier zusammenhalten, aus der Kraft heraus, die sie hatte, dem Willen, der Welt so zu begegnen, daß sie gestaltbar war und blieb, inklusive des sich zurückziehenden Ottos und ihres Ehemannes, der mit seinem Protestantismus, seinem pragmatischen, zu bodenständigen Deutschsein oftmals nicht verstand, was die Fähigkeit zur Selbsterfindung aus einem Menschen machen konnte. Er war sich nur sicher, er müßte ihre Kernschmelze auf konstantem, unbedenklichem Niveau halten.
    Sie wollte singen, mit der Größe ihrer Sehnsucht sich über Ort und Zeit strecken, es gab keine Einsamkeit, keinen Zweifel, wenn sie sang. Ihr sicherer Alt, das Rauhe, Fragwürdige hinten, kein Glanz, Sandpapier, hatte Otto gesagt, mit dem sie an den mehr oder weniger durchlässigen Oberflächen ihrer Zuhörer schmirgelte. Sie war bereit, einen Pakt vorzubereiten, in den sie ihr Leben, ihre zwei Kinder, ihren Mann, alle Kämpfe mit ihm, jeden Kuß, jedes Lachen und auch das Grenzenlose ihres Wütens einzubringen bereit war. Die Geschütztheit aufgeben, die vermeintliche Sicherheit, etwas zu haben, eine Familie, ein kleines Glück. Keine Rettung in die kühle Distanz, wie ihr Mann das machte, etwas, das sie an ihm bewunderte und zugleich verabscheute. Die Samtfalte im Vorhang, eine Schlucht mit einer Brücke, direkt vor ihren Füßen. Sie griff nach dem Stoff und wußte, daß das Hämmern von draußen kam, von der Straßenseite her, nicht Tucholskys Trommlerin, kein Uhrwerk, nicht Rems Klopfen am schwarzen Körper des Klaviers.
    Sie ging über die Bühne, die Treppe hinunter, durch den Zuschauerraum, sie ging, wie sie anfangs gekommen war, wie sie immer gekommen war, sie riß die Tür auf, da kreuzten zwei Bohlen den Eingang auf Augenhöhe, von Türrahmen zu Türrahmen, dahinter standen die Männer, der Nahesteher hämmerte, die Hohestirn hielt die Nägel, der Leninbart rauchte, am Treppenniedergang lehnten zwei weitere Bohlen.
    »Vergeßt mir nicht den Hintereingang, ihr Trottel«, rief sie. Nur weitere Schläge, Hammer auf Stahl, der Nagel wurde tief ins Holz getrieben.
    »Dafür heben wir uns unser hübsches Siegel auf«, sagte der Bart, ruhig zwischen zwei Zügen.
    Sie knallte die Tür, wartete und hoffte wirklich, naiv, kindlich, eine Sekunde lang.
    Schlag für Schlag trat sie rückwärts. Sie stand, ohne denWeg wahrgenommen zu haben, im Freien, am hinteren Ausgang, immer noch der Morgen, die regennasse Luft, sie griff nach der Klinke, hielt sie, zögerte, alle Lächerlichkeit ihres Tuns, das geballte Scheitern kam auf sie zu, auch die Ahnung, daß etwas unwiederbringlich vorbei war, sie ließ die Klinke los und zwang sich, aufrecht und ohne Eile fortzugehen.
    Ihr Mann Anton saß im Wohnungsflur auf zwei Koffern und mühte sich, den Stift der Schnalle in das ausgebeulte Loch des Lederriemens zu bugsieren. Er setzte sich mittig auf die Koffer. Er schaute sie nicht an, als sie eintrat.
    »Ach, du verreist auch?«, fragte sie und ging in die Küche. Er brachte all sein Gewicht zum Einsatz, samt das seiner hoffnungslosen Gedanken und schob den Stift ins Loch. Senta und Peter saßen in der Küche am Tisch und schoben ein Glas zwischen sich hin und

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