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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Zeige- und Mittelfinger, und kniff ein Auge zu, wenn der Rauch wie eine beißende, aber sich verflüchtigende Erinnerung vorbeizog.
    Dann hörte sie ein unrhythmisches Stampfen auf dem Flur. Sie drehte sich um, nichts geschah, es war still, sie mußten vor der Tür stehen, keine Stimmen, nur Nadjas Puls in ihren eigenen Ohren, so laut, daß sie einen Augenblick dachte, aus seinem Schlag sei das Geräusch von Schritten entstanden. Die Tür wurde geöffnet. Nadja spürte das Weiche der Lederriemchen in ihrer Hand, den plötzlichen Schweiß darin, ein Brennen unter den Achseln, die Kürze ihres Atems. Flitter und Federn umgaben sie, die blauen Blusen auf beschrifteten Bügeln, kein Schutz, nur Stoffe. Ein kräftiger Mann mithoher Stirn und großen Händen trat ein. Dann ein dicker, korpulenter, seine leichten X-Beine gaben ihm den Anschein von Unbeholfenheit. Er stand sehr nah hinter dem mit der hohen Stirn, ein echter Nahesteher, wahrscheinlich zu harmoniebedürftig, um diese Arbeit machen zu können. Als letzter trat ein Dunkler mit Spitzbart ein, eine weichere Variante von Lenin, der Nahesteher versicherte sich mit einem Blick, daß sie es nur mit einer Frau zu tun hatten, der mit der hohen Stirn machte einen Schritt auf Nadja zu, sie wich nicht zurück. Mit ungeduldigem Zucken hielt er ihr einen Brief entgegen, daß sie ihn endlich nehmen mußte. Der Leninbart blieb in der Tür stehen.
    »Warum schriftlich?«, fragte sie.
    »Willst du noch etwas von dem Tand mitnehmen?«, fragte der Nahesteher.
    »Nix da«, sagte der Leninbart, »wir vertrödeln hier nicht unsere Zeit.«
    Sie hielt den Brief, faltete ihn auf, provokativ langsam, überflog nur den hingehauenen Befehl, Direktive Nummer, Genrich Jagoda, Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, Unterschrift. Noch nicht einmal von Stalin persönlich ausgestellt war dieses Ding. Sie schaute die drei Männer an, den Nahesteher, die Hohestirn, den Leninbart.
    Der öffnete ihr freundlicherweise noch ein Stück weit mehr die Tür.
    »Ich danke für eure Mühe, Genossen, aber ...«, da salutierte die Hohestirn und befahl: »Wir ergreifen ungern direkte Maßnahmen, in diesem Lokal«, »Theater«, unterbrach Nadja ihn. »In diesem Schuppen.« Der Nahesteher lächelte, das Unbeholfene an ihm blieb, dazu aber eine unberechenbare Untertänigkeit. Sein Gesicht war zu weich.
    Sie legte den Brief neben sich auf den Tisch, zeigte den Männern mit einer Geste, daß sie sich setzen sollten. Ihr Mut schwand. Die albernen Riemchen in der Hand. Der Garderobenstuhl, der Hocker am Schminkspiegel. Keiner der drei Männer rührte sich. »Mit wem kann ich reden?«, fragte sie und prüfte bis zur letzten Silbe die Festigkeit ihrer Stimme. »Beschluß unter Zeugen überbracht«, sagte der Nahesteher.
    »Ich dachte, wir sind alle Bürger dieses Landes. Gleichberechtigte Bürger.« Der Leninbart machte einen Schritt auf sie zu, die zwei anderen folgten. Alles gleichzeitig in ihrem Kopf, das tiefsitzende Gefühl, unterlegen zu sein als Frau, nicht im Denken, aber in jeder anderen Hinsicht, und das Unbehagen, hier allein zu sein.
    »Menschen«, sagte sie.
    »Deutsche«, sagte der Nahesteher, »die wollen wir hier nicht. Ab zurück in euer Land.«
    Sie wollte Otto unten in der ersten Reihe sitzen sehen, wie immer, wenn sie eine neue Revue einstudierten, sein unbarmherziges Auge, seinen zermalmender Perfektionismus, seine Ideen, die er wie unumgängliche Forderungen äußerte, obwohl er sie selbst als immer neues Experiment empfand. Seine Härte, die sie antrieb, sein Schweigen, das in die Unzufriedenheit verwies, dann ein kurzer Moment von Entspannung, fast Seligkeit in seinem Gesicht, wenn sie ihm boten, was er hatte haben wollen. Er sah dem jungen Tucholsky ähnlich, er wollte ihm ähnlich sehen mit seinen Hornbrillen-Augen, er sang am liebsten seine Lieder. Nur Rem, der jüngste der Truppe, durfte ihn am Klavier begleiten, Rem, den seine Eltern nach ihrem Glauben benannt hatten – rewoljuzionny mir, die revolutionäre Welt –, der nie die Zähne zusammenbiß und immer entspannt und besonnen wirkte. Sie wollte in der Mitte der Bühne mit Blick auf die leeren Stuhlreihen stehen, die Luft ihres Theaters einatmen, Ulitza Twerskaja, Moskau. Kein Name draußen, es hatte sich herumgesprochen. Die Blauen Blusen. Weil sieArbeiter waren. ›Ein Hurra auf den Genossen Stalin‹, so hatte es am Ende ihres Programmheftes gestanden. Sie wollte die eiligen Bewegungen, die hektische Gereiztheit haben, vor

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