Das Glück der Zikaden
unter ihr senkte, sie sprang zur Seite, stolperte, griff in den Schnee, rollte sich in Sicherheit. Das Pferd hatte den Kopf gehoben und schnaufte, wie in Verwunderung über den rätselhaften Hechtsprung, den sie gerade vollführt hatte. Es warauch zum Wundern, nur hatte sie jetzt diesen Rahmen geschaffen, sie sah den Nachbarn vor sich, der ihr versichert hatte, der Abdecker leiste gute und schnelle Arbeit, ein Schnitt durch die Kehle des Tieres, danach erst die Hufe, und außerdem sei Pferdefleisch noch immer das nahrhafteste Fleisch, was sie als Stadtmensch natürlich nicht wisse. Selbst die Innereien, die Knochen, alles könne man hervorragend verwerten. Aus dem Pferd wird keine Wurst, hatte sie erwidert, und er hatte mit den Augenbrauen gezuckt, über ihre Verve gelächelt und ihr sein Gewehr ausgeliehen. Sie war immer hier rausgeritten, sommers wie winters, hatte mit dem Pferd die Einsamkeit geteilt, Glücksmomente nach gelungenen Aufführungen, Wut über die oftmals so realitätskonformen Entscheidungen ihres Ehemannes, kleinliche Aufregungen, die sich hier draußen sofort in Luft auflösten. Natürlich war es Einbildung, und sie gestand dem Pferd eine Wahrnehmung zu, die es nicht hatte, aber ihr Gefühl war gewesen: Sie hatten die beruhigende Schönheit hier draußen geteilt.
Sie rappelte sich erst auf, als sie durch das Fell ihres Mantels die Kühle zu spüren meinte, es war der Schweiß auf ihrer Haut und die Bewegungslosigkeit, in der sie zu frieren begann. Sie wollte keinen Abschied, das hatte sie sich vorgenommen, das wäre nur selbstmitleidiges Zögern gewesen. Sie warf die Zuckerstücke so nah wie möglich vor sein Maul, sie fielen ins Weiß und verschwanden. Das Pferd schnupperte und schnappte, im Liegen, Schneeflusen flogen auf. Nadja kroch an den Rand, reichte dem Pferd von dort aus noch Zuckerstücke auf ihrer Hand. Es hörte auf zu kauen, lag nur im Pulverschnee. Sie stand auf, griff nach dem Gewehr. Sie entfernte sich, drehte sich nicht um, hörte nur plötzlich das Knacken, das Reißen des Eises, rannte los, so schnell es im Schnee ging, meinte, das Plätschern des Wassers zu hören, in ihrem beschleunigten Herzschlag, im Rauschen in denOhren. Sie drehte sich um, das Pferd war verschwunden, und sie spürte, wie etwas Unkontrollierbares in ihr ausbrach, womit sie nicht gerechnet hatte, eine Lust, dem Verschwinden etwas entgegenzusetzen. Sie schoß mehrere Male in die Luft, schrie zum Salutieren und war zugleich glücklich darüber, hier allein zu sein. Wie gut war diese Einsamkeit. Wie groß die Freiheit, die es nur hier gab, in ihrem Land, wo Leben und Tod nah beieinanderstanden, Schönheit und Grausamkeit, und der Schmerz darüber, weil er spürbar blieb, eine so lebendige Kraft entfalten konnte.
A n einem Tag im folgenden Frühjahr nahm Nadja morgens den Weg am Fluß, der beidseitig durch hohe Steinmauern gehalten wurde, ein Lastkahn rührte den Glanz der Fläche auf, zog eine Schleppe aus Wellen hinter sich her. Der Himmel war klar, ein silbriges Licht, das Mauerwerk neben ihr noch dunkel vom Regen der Nacht. Die Hacken ihrer Absätze knirschten auf dem Stein, sie ging nicht, sie eilte so schnell es der knielange Wollrock ihr gestattete. Schon als sie den Bürgersteig betrat, nur noch einige Meter zur Souterraintür des Theaters, sah sie, daß kein Siegel daran klebte. Sie sah die schiere Tür, unbeschmutzt von aller Willkür, und sie schloß die Hand zur Faust, als habe sie einen Sieg errungen. Keine Troika war erschienen, alle Befürchtungen, die die anderen nach der gestrigen Vorstellung geäußert hatten, alle Ängste waren nur herbeigeredet worden. Und das war es, was die erreichen wollten. Daß die Angst siegte und die Menschen das Flüstern begannen.
Otto, ihr Regisseur, durchquerte den Zuschauerraum, sein üblicher, bedächtiger Gang; da konnte weiß der Himmel was passieren, Otto würde das Schreiten nicht aufgeben. Nadja erschien am Zwischendurchgang, sie legte eine Hand an den Türrahmen. Otto blieb vor ihr stehen, zog sein Jackett in den letzten Zügen an. Sie beruhigte ihren Atem.
»Was soll das hier werden?«
»Was meinst du wohl.«
»Bitte«, sagte Nadja, »du hast’s doch draußen gesehen.«
»Niemand wird uns verschonen.« Otto schloß den letzten Knopf in einer Langsamkeit, als hätte er noch nie einen Knopf geschlossen.
»Wenn ich eine Sekunde zweifle«, entfuhr es Nadja, »dann kommen sie. Rein in den Spalt, wie eine Schabe. Und dann sind sie da. Aber nur, weil ich
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