Das Glück der Zikaden
schaute ein letztes Mal in den Himmel.
Sie blieben bis über Sonnenaufgang dort sitzen. Dann stand Katarina auf, ging hinein und rief ihre Mutter an.
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Epilog
D ie Türen zum Saal wurden fast gleichzeitig von den Ordnern geöffnet, aus dem Saalinneren war Applaus zu hören, Rufe, auffordernde Pfiffe, dann eine Zugabe, die Katarina und Gregor bis hier ins Foyer hörten. Es war das Lied der Zikaden, dazu eine Musik, wie sie im Sommer aus dem Nichts zu kommen scheint, wenn die Sonne hoch steht. Die durch die Büsche wandert und von Baum zu Baum. Hier bestand sie vor allem aus erhitzten, rasenden Tönen, nur kurz gestrichen auf gespannten Saiten. Und dann kam der Gesang, der davon erzählte, daß die Zikaden einmal Menschen gewesen waren, die aufhörten zu essen, zu trinken und einander zu lieben, weil sie immer nur singen wollten. Während sie sangen, wurden sie schmaler und kleiner, bis sie dürr und trocken waren, unfähig, sich von ihrer Sehnsucht zu lösen. Dabei wurden ihre Stimmen unmenschlich, und keiner mochte sie mehr recht hören. Denn der schönste Moment an einem Ort, an dem sie zahlreich vorhanden sind, ist der Moment, wenn sie aufhören zu schreien. In dieser Stille zieht sich alles zusammen, kommt alles, was weit weg war, sehr nah heran. Eine Wohltat ist diese Stille und das Gegenteil von Schweigen.
Katarina spürte die Kälte der Marmortreppe unter ihrem Hintern. Gregor schien es ähnlich zu gehen. Sie standen beide fast gleichzeitig auf. Das Licht in den Gängen leuchtete milchweiß, die ersten Besucher kamen heraus, betraten das Foyer. Katarina griff nach Gregors Hand, lachte ihn an, nichtohne Unsicherheit. Er drückte ihre Hand, er hätte sie in den Arm genommen, das spürte sie, aber sie wandte sich ab, ohne genau sagen zu können, warum sie die Nähe zu ihrem leiblichen Vater nicht zulassen konnte. Sie gingen einen Schritt auseinander, ließen sich los. Sie lachte weiter über die hilflose Geste hinweg und merkte, daß sie die fliederfarbene Pelzstola ihrer Großmutter auf der Treppe hatte liegenlassen. Sie hob sie auf, klemmte sich das Fell unter den Arm und sah, wie Gregor in Richtung des Ausgangs ging, ruhig, selbstgewiß, wie ein Kapitän, der sein Schiff besteigt.
Er hatte vorhin gesagt, er liebe diese Fähigkeit, aufs Leben zu schauen wie ein höflicher Paparazzo, der sich vom Geschehen nie überrumpeln ließe. Er aber bleibe einfach einer dieser Phantasten, die raus aufs Wasser müßten im festen Glauben, es gäbe noch etwas Unbekanntes zu entdecken.
Er schob eine der Flügeltüren des Ausgangs mit der Schulter auf, trat hindurch, und das messingbeschlagene Holz wedelte knapp und kontrolliert nach, wie die solide Variante einer Western-Salontür, und kam wieder zur Ruhe.
Das Foyer füllte sich, und Katarina streifte durch die Herumstehenden, ging an Gruppen und Paaren vorbei, leicht dahinklimpernde Reden, die Beschwingtheit nach dem Auftauchen aus der anderen Welt. Sie mischte sich unter die Besucher, umrundete einige miteinander plaudernde Frauen, darunter eine Schwangere, alles Töchter wie sie. Die sich nicht so verzweigen, wie Söhne sich verzweigen. Sie bleiben nah bei sich stehen und sind sich nicht fremd in ihren Wünschen, Hoffnungen, in ihrer Art, enttäuscht zu werden, enttäuscht zu sein, und den Variationen, manchmal das Wesentliche zu verschweigen. Sie teilen ähnliche Formen von Einsamkeit. Manchmal verhindert das das Verstehen. Manchmal liegt darin aber auch das Glück, das Verzeihen.
Katarina trat nach draußen, in die Spätsommernacht. Die Lichter der Stadt fügten sich zusammen zu einem Dunkelorange, eine unaufgeregte, ruhige Atmosphäre auf dem Platz, und Gregor kam auf sie zu, streckte ihr das Foto entgegen, das sie ihm ohne Absender, nur mit dem Hinweis in den Briefkasten gesteckt hatte. Ein Foto von Senta und ihr, auf dem sie beide eng beieinanderstehen, hinter ihnen der Pool, der Hain, das Haus, der Himmel und der Berg. Auf die Rückseite des Fotos hatte sie den Titel der Revue, Das Glück der Zikaden, geschrieben, die Uhrzeit und den Tag.
Er sagte: »Danke dafür.«
Sie sagte: »Gern geschehen.«
Er sagte: »Komm, laß uns gehen.«
Mein Dank gilt der Familie Clausing für ihre warmherzige Aufnahme in ihrem Haus, wo der erste Teil des Buches entstanden ist. Ich danke Peter Matussek für seine unendliche Großzügigkeit, ohne seine motivierende und unterstützende Art würde es das Buch nicht geben. Außerdem hat die Landesregierung Schleswig-Holstein
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