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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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zweifle.«
    Otto schaute an ihr vorbei, eine Nuance. Früher, als alles Aufbruch gewesen war, als das Gefühl sie trug, alles zu dürfen, da hätte Otto ihre Schärfe mit einer Hand aus der Luft gewischt, Papperlapapp, red keinen Unsinn, aber diese Bestimmtheit war seit Wochen, Monaten, mit jedem Tag geringer geworden, bis, wie jetzt, nichts mehr davon übrig schien. Sie war nicht bereit, schwindende Illusionen zu teilen. Im Gegenteil.
    »Ich bin es gewohnt, Entscheidungen zu treffen«, sagte er mit dem diffus an ihrem Kopf vorbeigehenden Blick, »und nicht, daß andere einen Plan für mich haben, von dem ich nichts weiß.«
    »Wir haben nie etwas gemacht, was gegen sie war.« Sie spürte die rundgeschabte Kante des Holzrahmens in der Hand.
    Er lächelte, fast wie schlaftrunken nach einer zu kurzen Nacht. »Ein Wahn ist keine fixe Idee. Er ist eine Überzeugung. Viel mehr als Ohnmacht führt der Verlust von Macht zu Gewalt.« Er flüsterte, das bemerkte Nadja.
    »Es ist besser, wenn du auch gehst.«
    Trotzig war ihre Wut, und sie wollte nicht, daß Otto diese Reaktion an ihr sah. Sie wollte seinen Enthusiasmus sehen, seine Ideen hören, seinen Wahnsinn und diese Leidenschaft teilen, immer noch weiter zu gehen, längst jenseits aller Beherrschung, aller kleinlichen Angst. Sie stieß sich mit der Hand vom Rahmen ab, ging an Otto vorbei, betrat den dunklen Zuschauerraum, nur Stühle, keine Menschen. Sie spürte deutlich, wie Otto ihr weiter seinen Rücken zukehrte.
    Sie atmete tief ein, das Staubige, den kalten Rauch. In die Stille mischte sich eine reuige Scham wie Sand in Wasser.
    Otto hob nur die Hand, so, daß sie seinen Handrücken sah, ein Gruß, nachlässig wie ein Mann, der am Bahngleis steht und eine alte Tante verabschiedet. Sie stampfte mit dem Fuß auf, hätte sie etwas zum Schmeißen gehabt, sie hätte es geschmissen. »Das ist Verrat.«
    Otto drehte sich um, schaute sie an. Zwei schwarze Kreise, die Hornbrille. »Es stand dir noch nie gut, solche Wörter in den Mund zu nehmen.«
    Im Halbdunkel wirkte sein drahtiges, aschbraunes Haar wie das kurze Fell eines Schafes. Ein dichter Pelz für den Mann mit den klaren Gedanken, den schärfsten Ideen, etwas Weichheit für den mit der unerbittlichen Fähigkeit, seinen Schauspielern Flausen auszutreiben und so nah wie möglich an die sonst sorgsam gehütete Wahrheit herauszukommen. Denn auch jetzt stimmte, was er sagte. Sie hatte das nicht sagen wollen, viel zu große Worte. Mit Pathos ein schlechtes Gewissen erzeugen, was für ein schlechtes Spiel. Aber sie konnte es sich nicht verkneifen. »Wenn du gehst, dann ist es hier vorbei.«
    »Leb wohl«, sagte er und verschwand im dämmrigen Licht des Vorraumes.
    Sie schritt über die Bühne, riß die Tür zum Garderoben-Kabuff auf, feuerte sie zu, hob das flügelschimmernde Kleid auf für die Nummer mit den stummen Weibern, warf es über die Garderobe, ein taumelnder Flug, das Schimmern wurde grau, ein Lappen, der über Seide, Taft und Pailletten hing, sie trat nach einem Schuh, der im Weg lag, sie hob ihn auf und blieb so, mit seinen Riemchen in der Hand, stehen. In diesen Räumen konnte sie sich neu erfinden, sobald jemand sie zwingen sollte, sie zu verlassen, gäbe es das nicht mehr, was sie im Leben am allermeisten erfüllte: die Illusioneines anderen Lebens. Das Gefühl, es weit hinaus geschafft zu haben, die Entfernung zwischen dem hier und der Mutter, dem zugigen Elternhaus und dem Jaroslawler Hinterland konnte nie groß genug sein. Wenn sie auf der Bühne stand, dann war sie in Sicherheit. Daß sie ihre kräftige Stimme von dieser Mutter geerbt und das Singen selbstverständlich und nebenbei als Kind bei der Arbeit gelernt hatte, das behielt sie für sich. Sie hatte den anderen gegenüber ihre Herkunft in ein Stadthaus verlegt, sich manchmal was bei Tschechow, manchmal bei Maxim Gorkij geliehen, und sich – weil sie sich in diesen anderen Leben nicht so gut auskannte – gelegentlich in Widersprüche verstrickt. Daher verlor sie am liebsten kein Wort über den ganzen Schlamassel und sagte zu ihrem Gegenüber, wenn er sie fragte: Wo ich herkomme? Nirgendwo, ich bin hier, hier und jetzt. Das ist unser Leben, Genosse, könnte es spannender sein als jetzt? Der Aufbruch, die Kunst, das Wir. Dann lachte sie ihr Mädchenlachen mit dem Grübchen in der rechten Wange, wischte mit der Spitze des kleinen Fingers ihren linealgeraden Pony aus der Stirn, der sich wieder schloß wie ein Feinhaarpinsel, die Zigarette zwischen

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