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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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her. Darin schwamm eine Kaulquappe, vielleicht auch zwei, Nadja wollte es nicht sehen. Sie stellte Brot auf den Tisch und schnitt Schinken und saure Gurken, sie goß Milch in vier Becher, und Anton stand in der Küchentür und sagte: »Wir essen nicht mehr, wir fahren.«
    »Ich weiß nicht, wo du hinfährst«, sagte sie, »aber ich esse jetzt was.«
    »Siehst du, Papulja«, sagte Senta laut zu ihrem Vater, »dann muß ich also doch nicht meinen Frosch hierlassen.«
    »Meine Frosch«, versuchte sich Peter in seiner noch rudimentären Sprache.
    Anton verließ die sichere Umrandung der Tür und wagte sich aufs offene Feld. Er hatte Augen, die an einen Hund erinnerten, der wagemutige Menschen aus den Bergen rettete, sein Haar war – wie Nadja fand – durch seinen vorauseilenden Gehorsam ausgedünnt, seine Schultern schmal, vielleicht schmaler als der Mittelpunkt seines Körpers, erhatte mehr Gewicht unten als oben am Hals, er sog seine Lippen ein und holte Luft durch die Nase. »Wir könnten ein paar Brote brauchen, das schon.«
    Sie trank ihren Becher leer, wischte mit ihren Fingern die Mundwinkel aus. »Du kannst sie gebrauchen«, sagte sie, »nur du hast dich von diesem Wahn anstecken lassen.«
    »Waren sie im Theater?«, rief er, wieder im Flur.
    »Nein«, rief sie und biß von ihrem Brot ab. Die Kinder zogen die Köpfe ein, Peter schob mit dem Finger Krümel auf dem Tisch hin und her, Senta starrte das Glas mit dem Tier an. Nadja schluckte das Zerkaute und etwas Salziges herunter, einen Kloß, sie goß Milch hinterher, sie schob ihren Kindern die Teller hin.
    Peter folgte ihrer Aufforderung. Senta schien sich vom Anblick ihres Frosches zu ernähren. Ein halbfertiges Wesen, das jetzt gerade mit seinen Lippen am Glas klebte, als küsse es dies.
    Ihr Mann ging in vorgetäuschter Betriebsamkeit wieder und wieder an der Küchentür vorbei, er stapelte die Koffer in Türnähe. Dabei schien er jedesmal einen Blick in die Küche erhaschen zu wollen. Sie biß von ihrem Brot ab und kaute es durch, wie sie noch nie ein Brot durchgekaut hatte. Sie schnitt sich eine weitere Scheibe ab, schmierte sie, nahm den Schinken, hielt alles fest. »Papulja«, sagte Peter. »Ja, und wohin?«, fragte sie ihren Sohn auf Russisch und mit einer wütenden Arroganz, die ihr selbst wehtat. Im Gesicht ihres Kindes sah sie hilflose Angst.
    »Berlin«, antwortete Senta stellvertretend und auf Deutsch. »Und in ein paar Wochen sind wir wieder hier.«
    »Wenn wir gehen, dann kommen wir nie mehr zurück.«
    »Nie mehr und nie wieder, das gibt’s gar nicht«, sagte Senta.
    »Wer sagt das?«
    »Du.«
    »Dann war das gelogen.«
    Ihre Tochter hatte ihre geflochtenen Zöpfe gegriffen und hielt sie mit einer Hand unter ihrem Kinn zusammen. Sie zog an ihren Zöpfen wie an dem Band eines Hutes. Die andere Hand lag ausgestreckt auf dem Tisch, nah beim Glas mit der Kaulquappe.
    »Wenn du lügst, warum soll ich dir dann glauben?«
    Eine kurze, seltsame Freude über die Spitzfindigkeit ihrer Vierjährigen – in einem anderen Moment, unter anderen Umständen, hätte sie gelacht und mit Senta weitergescherzt: Was ist lügen? Wenn man etwas erfindet, was es nicht gibt? Sind alle Märchen Lügen? Nein, Mama, den bösen Wolf gibt es wirklich.
    »Ich gehe mit Papulja«, sagte Senta und stand auf. Sie nahm ihr Glas, und Nadja hörte hinter ihrem Rücken, wie ein Deckel aufgeschraubt wurde. Dann rutschte Peter vom Stuhl, umrundete Nadja weiträumig, als wäre sie ein Tier, das jederzeit nach ihm schnappen konnte.
    »Mach lieber ein Loch in den Deckel«, sagte sie, »sonst stirbt dein Frosch, bevor er einer geworden ist.«
    Im Mantel, mit Hut, die Brosche am Revers gerichtet, als ginge sie in die Oper. Sie nahm keinen Koffer. Anton schleppte vier, zwei unter den Armen, zwei in den Händen. Er zog sein linkes Bein, das von einer Kinderlähmung geschwächt war, kaum nach. Senta umarmte ihre Tasche vor dem Bauch, Peter trug einen Pappkoffer, die kleine Hand am Blechgriff, ein Kinderreiseutensil, in das ein Spielzeug, ein Buch, ein Stück Kreide paßten. Nadja wartete die Prozession ab, zog die Tür hinter sich zu und schloß nicht ab. Sie hielt ihr Kinn hoch, den Hals gerade. Als Anton mit einem knappen Kopfnicken auf seine Manteltasche deutete, darin der Schlüssel, ging sie an ihm vorbei die Treppe hinunter. »Mami«, rief Senta, »Tür zuschließen.«
    »Wozu«, entgegnete sie, »wenn wir bald wieder da sind«, und ging Stufe für Stufe dem Ausgang entgegen.

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