Das Glück der Zikaden
blieb,enthielt das Bild seinen Charakter, seine lächerliche Angst. Denn ein Bild konnte man einmauern, übermalen, hinter Schloß und Riegel bringen, weit abseits der Wahrnehmung anderer. Und wenn er seine Neugierde überwand – die Neugierde, ob das Bild wirklich die magische Kraft hatte –, dann glich der Handel einem perfekten Verbrechen. Kein Orakel, das Bescheid wußte. Kein Echo, das letzte Sätze sprach. Kein Gericht, was ihn verurteilen konnte. Und er, mitten im Leben, mit Senta und fünf gefügigen Kindern, die ihm versicherten, daß er der war, der er vorgab zu sein.
Am Morgen fand Senta ihn schlafend im Wohnzimmersessel. Über die Scherben auf der Treppe, den zerbrochenen Rotweinkelch, hatte sie sich nur gewundert und angenommen, Michael sei gestolpert. Sie konnte nicht wissen, daß er das Glas gegen die Wand geschleudert hatte, in einer Wut, die weit über das hinausging, was man einen angemessenen Zorn nennt. Eine Wut, die zurückreichte in sein eigenes Leben, über dieses hinaus, womöglich, hinein in das Leben seiner Mutter und seines Vaters. Eine jähzornige, hilflose Wut, ausgelöst nicht durch das Bild, sondern durch das, was er erst nach Stunden der Betrachtung am unteren Rand hatte lesen können. Dort stand in der Großbuchstabenschrift seiner zwei Söhne: Papa, wir lieben dich.
D er Fremde, der an der Tür geklingelt hatte, trug den mischblauen Anzug einer undefinierbaren Mode, ein Polyesterhemd und einen Hut, wie ihn niemand mehr aufsetzte. Er war nicht größer als Senta, hatte die rundlichen Wangen eines Menschen, der gerne aß und trank, und reichte ihr den Briefumschlag, auf dem nichts stand.
Sie wollte nicht unhöflich sein an diesem Vormittag, aber es war ihr unwohl dabei, den Fremden in ihr Haus zu lassen. Sie trug noch ihren Morgenmantel, darunter das Nachthemd. Ausnahmsweise war sie froh darum, daß das Lydchen zurückhaltend, aber hörbar in der Küche herumfuhrwerkte.
»Er bat mich, Ihnen das zu überbringen«, sagte der Mann mit einer hellen Stimme, »darf ich Sie jetzt um etwas bitten?«
»Äh, ja?«
»Ein Glas Wasser.«
Senta hielt den Briefumschlag fest, wendete ihn, auch kein Absender, der Fremde wartete höflich und wie jemand, der alle Zeit der Welt hatte, sie sagte: »Warten Sie einen Augenblick« und ging in die Küche. Sie füllte ihm ein Glas und stellte es auf den Flurtisch, er setzte sich auf den Stuhl daneben, stellte seinen Hut auf die Knie.
»Ich bin gerade etwas in Eile, die Kinder«, begann Senta.
»Ich möchte Ihnen keine Umstände machen, aber es ist nicht unerheblich, denke ich, was in dem Brief steht.«
»Wer sind Sie?«
»Das möchte ich Ihnen nicht sagen.«
Senta ging ins Wohnzimmer, setzte sich in den Sessel am Fenster, riß den Brief auf und zog das dünne, gebräunte Papier heraus. Ein enggetipptes Buchstabengeflimmer, noch nicht einmal die Anrede handgeschrieben. ›Liebe senta‹, stand dort, und sie stockte ob dem Kleingeschriebenen, ›ich plante ein Haus zu bauen, wie du weißt, aber mir fehlten immer wieder steine, mal Balken, man braucht Ziegel und Kleinigkeiten, mir fehlte immer wieder das eine oder das andere, also blieb mein Haus ein Rohbau, wie du dir denken kannst. Ich bin dazu übergegangen, ein kleineres Haus zu bauen, das entspricht auch mehr meiner Art, ich weiß nicht, ob du dich an mich noch erinnern kannst, ich, meinerseits bin in Gedanken mehr als oft bei dir. Unsere Wege trennten sich, weil du das Haus nicht mitbauen wolltest, nach dem mir der sinn stand, ich nehme an, du hast ein anderes gebaut, ist es schön, bist du zufrieden damit? steht es noch, hat es ein solides Fundament oder wackelt was und ist lose? die Menschen sind gut, die Bauarbeiter sind hervorragend, ein jeder weiß seine Arbeit zu machen, ich wünschte nur, ich hätte einen Architekten gefunden, der etwas taugt, das ist das Problem bei allem, wenn der Architekt schlecht ist, dann bleibt alles im Zustand des Chaos, die Arbeiter wollen was bauen, aber ohne Plan können sie das nicht, also bauen sie nichts. Mein Architekt ist oft verreist, auf Konferenzen, symposien, Veranstaltungen, der Architekt ist ein vielbeschäftigter Mann, der will aufgrund seiner Vielbeschäftigung auch Privilegien genießen, und wenn die Arbeiter ihn dann nicht zu Gesicht bekommen, nur wiederum das Auto, in dem er sitzt, den Fahrer, den er hat, das Haus, das er selbst bewohnt, die exklusive Ware, die er genießt, dann wird es naturgemäß schwer, die Arbeiter noch davon zu
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