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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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nicht bei ihr. Sie habe noch zuviel Schutt in ihrem Vorgarten liegen, von der Mutter, der Trümmerfrau, sie wolle die Steine nicht einfach nehmen und in den nächsten Garten werfen. Sie wolle die Zeit haben, um unter die Steine zu schauen, mal sehen, was sich dort finden ließe, hatte sie gesagt.
    »Was ist mit Ihren Kindern?«, hatte sie dann gefragt.
    »Sie sind mein Immunsystem, würde ich sagen. Sie sind das Wichtigste, was ich habe, und zugleich vergesse ich das komplett. Ihre Lebendigkeit schafft mein Vergessen. Vielleicht sind sie mein Senkblei ins Leben.«
    »Mein Gott, bin ich infiziert vom Alleinsein«, sagte sie knapp, »aber ist nicht jede Schwäche dazu da, an ihr zu wachsen?«
    »Ist man schwach, wenn man allein ist?«
    »Man? Ich weiß nicht. Ich glaube, viele fühlen sich angreifbar. Ich fühle mich stark. Ich bin gern allein.«
    Er erwiderte ihren Blick. Er wußte, wie das ging, sich nur durch den länger gehaltenen Blick in Position zu bringen. Sie brachte sich auch in Position. Sie öffnete ganz leicht die Lippen, als atmete sie aus. Er kopierte diese Geste. Sie atmete ein. Er atmete ein. Sie neigte ein wenig den Kopf, nur die Nuance einer Frage, eines Lächelns. Er berührte mit seinen Fingerspitzen ihre Hand, die neben ihrem Weinglas auf dem Tisch lag. Sie zuckte nicht.
    Nach einer Zeit, in der er die Kühle ihrer Finger, die Trockenheit ihrer Haut wahrgenommen hatte, drehte sie ihre Hand um, so daß seine Finger in ihrer Innenfläche lagen. Er, der sich sonst keinen Sentimentalitäten hingab, berührte ihre Hände, als wolle er dort den Grund ihrer Einsamkeit ertasten. Sollte sie sehen, wie hilflos er seiner Sehnsucht ausgeliefert war, wie schwach er war. Sie würde den Schmerz sehen und ihn nicht verurteilen, ihn nicht zu ihrem Vorteil nutzen. Ihr Verstehen würde den Schmerz heilen.
    Ohne Verabredung war sie ihm ins Büro gefolgt.
    »Laß mich nicht mehr los«, hatte er sich sagen gehört, während er in sie eingedrungen war, für diesen Augenblick die Hoheit über ihren Körper genießend, ihre Hände auf dem glänzenden Schwarz des Sofas, ihre Beine unten bestrumpft, oben nackt, es war gut, daß sie beide angezogen waren, nur die Stellen, die es brauchte, frei von Stoff.
    »Sch«, hatte sie sehr leise gesagt und ihn mit ihren Unterschenkeln näher an sich herangedrückt.
    Dabei hatte sie fein gelächelt, höflich fast. Sie hatte ihn festgehalten und liebkost, ihm die Stirn geküßt, das Gesicht, die Haare, das Weiche unter den Ohren. Sie hatte ihre Hände in seinen Nacken gelegt und ihn mit ihren mandelförmigen Fingernägeln gekrault. Er hatte etwas gespürt, was durch die Haarrisse seines Panzers gekrochen kam, etwas Warmes, Liquides, wie ein Sirup, der einen rauhen Hals beruhigt.
    Und eine Sekunde danach hatte sein Verstand wieder die Kontrolle übernommen, sein sonst nimmermüdes Hirn: daß er sich zu beherrschen habe, hier an Ort und Stelle, noch auf seinem schwarzen Chesterfield-Sofa, in seinem mahagonigetäfelten Büro, um nicht zu einer lächerlichen Karikatur von Mann zu werden.
    »Laß uns weggehen, woanders neu anfangen.«
    »Du bist auch einer dieser Kindsköpfe«, lächelte sie. »Willst du einen Tee?«
    »Ich will keinen Tee. Ich will – daß sich was ändert.«
    »Einen Kaffee?«
    »Sabine!«
    Sie rückte ein Stück von ihm ab, so, daß sie ihn ansehen konnte. Sie hob die Augenbrauen, nur ein klein wenig, aber es reichte. Ein galliges Aufstoßen hinderte ihn daran, der Augenblicksüberzeugung, daß ein Aufbruch das Beste wäre, was ihm passieren könnte, weiter zu folgen. Widerwillig drängte er sich von ihr weg. Mit einem Mal war sie ihm so vollständig über, wie sie ihm vorher unerreichbar gewesen war. Mit dem Beginn eines wütenden Schwungs rappelte er sich auf, richtete seine Kleidung, reichte ihr knapp die Hand, damit sie lieber früher als später vom Sofa hochkam. Für Sekunden genoß er ihre Irritation. Ihr Blick verhuschte, ihre Gesten zeigten, wie peinlich ihr ihre Blöße war. Sie richtete eilig ihren Rock, ihre Bluse, ihre Anzugjacke, die wie die Jacketts der Männer mit – für seinen Geschmack – zu kantigen Schulterpolstern ausgestattet war. Sie erinnerten ihn an Schulterstücke, Rangabzeichen. Ihre Finger kämpften mit den Knöpfen, dann war sie wieder in Form. Sie traute sich jedoch nicht, ihm ihren Rücken zuzudrehen. Also tat er es. Sie hatte einen Blick in seine Einsamkeit, hinter den Vorhang, auf die trostlose Bühne seiner Selbstverleugnung geworfen.

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