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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Hier, hinter dem schmalen Grat von Bühnenrand und Vorhang, war er das, was er war, aber nicht sein wollte. Und sie, sie hatte sich durch die Kulissen gestohlen und ihn gesehen.
    Sie war mehr als eine einfache Feindin geworden, sie war eine sicherheitsbedrohliche Lage.
    Sehr langsam ging er an seinem T-Modell vorbei, ging in der blauschwarzen Dunkelheit die Auffahrt hoch, nur das Licht am Hauseingang, das Weiß der Wände glänzte in die Nacht, sein solides Eckhaus im stillen West-Berlin. Und in dem Moment kam ihm die Idee, wie er ohne Gesichtsverlust, ohnedas Eingeständnis seines Versagens, aus der Sache herauskommen konnte. Ohne Sabine oder sich der Lächerlichkeit preiszugeben oder Macht einzubüßen. Er wußte, daß er irgendwo in sich die Kraft hatte, diese Entscheidung zu fällen, eine weitreichende Entscheidung, die nur getroffen werden mußte, danach regelte sich alles von selbst. Und diese Entscheidung war er zu fällen fähig, wie die Menschen, die ihn umgaben, zum Befolgen fähig waren. Senta würde nicht widersprechen können, ebensowenig die Kinder. Er mußte nur vorangehen und schon würde alles wieder gut.
    Er nahm die leise Verwahrlosung wahr, die hier am Eingang um sich gegriffen hatte, seit Senta ihre Radiozeit begonnen und die Kinder die antiautoritären Anteile ihrer Erziehung vollends schätzengelernt hatten. Sie waren für die Verschmückung des Hauses zuständig, Senta fürs Aufräumen. Sie schien ihre weiße Welt nicht mehr verteidigen zu können. Erdpyramiden mit Stöckchenverzierung, aus Ästen geflochtener Wandschmuck, Kreidezeichen auf der Treppe und an der Wand. Alles wirkte, als hätte es eine großangelegte Schnitzeljagd gegeben. Michael schloß die Haustür auf, trat ein und schloß zweimal wieder ab, hängte seinen Mantel in die Garderobe, stellte seine Aktentasche daneben und bog in die Küche, um mit einem großen Schluck Rotwein all das wegzuspülen, was er wegspülen wollte, um nur die Kraft zurückzubehalten, die er in sich spürte, zur Bewältigung dieses leidigen, wirklich zu dämlichen Problems. Als er von der Küche in Richtung Wohnzimmer ging, fiel sein Blick auf die Portraits im Treppenaufgang. Er blieb stehen, er betrachtete Sentas Gesicht, ihren überdimensionalen Kopf, die liebevoll gemalten Details. Er sah die zwei Urheber, die sich unter ihren Kunstwerken verewigt hatten: Martin und Markus. Die ungelenkten Großbuchstaben. Etwas war da, was ihn davon abhielt, sein eigenes Portrait anzuschauen. Ein Brummton der Irritation. Eine Infragestellung, die er anden Membranen seiner Dünnhäutigkeit gerade nicht ertragen konnte. Martin und Markus hatten Senta als junge Frau gemalt und ihn als alten Mann. Nicht als einen grimmigen Fremden, das sah er wohl aus dem Augenwinkel, aber auch nicht als geachteten, frühzeitig gealterten Patriarchen. Dazu fehlte die Würde. Michael trank sein Glas leer, wog es kurz in seiner Hand. Füllte es gleich wieder bis zum Rand, trank es aus.
    Er versuchte, seinen Blick auf Sentas Gesicht zu richten, die großen Augen, die fast noch größeren Ohren. Ihr Haar, das von diesen Ohren geteilt wurde, wie ein Ast einen Wasserfall teilen kann. Viel Mühe und Liebe zum Detail hatten sie in Sentas Augenbrauen und ihre Lider gesteckt. Ihr Blick war klar und offen, trotzdem kam er beim Betrachter nicht an. Michael verbuchte das unter fehlendem Talent, obwohl es eine Wahrheit enthielt. Sentas Kleidung war bunt gemustert, ein Kaftankleid mit Flügelarmen, so etwas in der Art. Wieder nur am Rande seines Gesichtsfeldes bemerkte er, daß seine Söhne ihn vollkommen schwarz gekleidet hatten. Ein schmaler, schwarzer Fleck, der jederzeit vom Verschwinden in der übergroßen weißen Umgebung bedroht zu sein schien. Er ging drei Stufen die Treppe hinauf, blieb vor seinem Portrait stehen. Runzeln hatten sie ihm um die Augen gemalt. Etwas Zerknirschtes lag in seinem Gesichtsausdruck. Der Mund ein gerader, fest verschlossener Strich. Wackelige Linien auf der Stirn, wenig Haare. Wenn seine Kinder das in ihm sahen, dann war die Stunde der Wahrheit nicht mehr fern.
    Das Glas wog kalt in seiner Hand, er füllte es wieder bis oben auf. Er versuchte, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, wie es wäre, den Dorian-Gray-Handel abzuschließen. Was für eine Wohltat es wäre, wenn das Bild die Wahrheit in sich aufnähme, er dagegen weiter so leben konnte wie gehabt. Er wünschte einen Augenblick lang, er hätte die naive Kraft, an Magie zu glauben. Während er unerkannt

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