Das Glück der Zikaden
Lippen, ein blondierter Damenbart, grün umrandete Augen. Alles in allem ein mütterliches Gesicht. Senta konnte ihr Handgelenk nicht mehr aus dem Griff lösen.
Sie wußte nicht warum, aber in dem Moment wollte sie umkehren und gehen. Die Jungs brauchten ihren sichernden Blick. Katarina war allein da draußen. Noch nie hatte sie ihre Kinder irgendwo warten lassen, schon gar nicht im Halbdunkel der Abenddämmerung, an einem Ort, wo in jedem Fahrgeschäft für ein bis zwei Mark Gefahr gekauft werden konnte.
»Es gibt kein Glück«, sagte die Frau, »nur unsere Sehnsucht. Aber ein bißchen Erkenntnis können wir alle gebrauchen.«
Ein silbriger Strickpullover, der ihr bis zu den Knien reichte, türkisfarbene Leggings, die ihren stämmigen Beinen eine sportliche Note verliehen. Ihre Haare, fedrig geworden vom jahrelangen Blondieren, trug sie mit einem Ausdruck von Gelassenheit, fast Würde, als machte sie sich aus den mangelnden Vorgaben der Natur nichts und plante auch nicht, dem Wenigen etwas hinzuzufügen.
Senta stand, wie sie fand, etwas zu nah neben der Alten, die immer noch ihr Handgelenk umfaßt hielt. Sie löste sich aus dem Griff, bemerkte auf dem Sitzeckentisch unter dem Neonlichtbalken einen aufgeschnittenen Kastenkuchen, zur Hälfte gegessen, zwei Tassen Tee, neben denen die Beutel wie kleine Rucksäcke hockten. Die Alte schob Senta in die andere Richtung, weg vom Kuchen, vom Tee, in die dunkle Ecke des Wohnwagens. Es roch nach staubigem Schlingenteppich, fauligen Kartoffeln und so etwas wie einem chemischen Klo. Nur die Umrisse konnte Senta erkennen. Dort saß ein Mensch auf dem Boden, hinter einem niedrigen Tisch, seltsam tief, als habe er keine Beine, die er unter sich einzuschlagen brauchte. Um ihn herum Kissen, lederne Sitzhocker, ein Teppich mit indianischen Mustern, gewebte Augen, Kreuze, so was in der Art. Das Neonlicht ging mit einem Klicken aus, nach ein paar Sekunden Dunkelheit leuchtete ein Streichholz auf, die Hand des Mannes, seine Gestalt, der niedrige Tisch, er hielt das Streichholz an einen Docht, pustete es aus und schaute Senta an der Kerze vorbei an. Seine Stirn war glatt und jung, seine Haare fast schwarz und in einer weichen Welle zurückgekämmt. Seine Augenbrauen dicht und gebogen, seine Augen ähnelten denen der alten Frau. Heiter, selbstgewiß. Erst auf seiner Wange begann das Geschwür, ein blutroter Schwamm in der Form eines Tieres, fest an denWirt gekrallt, den ganzen Hals hinunter, die Mundwinkel mit überwuchert. Senta versuchte, ihm nur in die Augen zu sehen, mußte aber immer wieder auf diese Belagerung schauen, die sein Gesicht war. Er schien zu lächeln.
»Aus der Hand lesen«, sagte er leise durch den offenstehenden Spalt, der sein Mund war, und tupfte sich dann sehr ruhig die Lippen mit einem Taschentuch ab.
»Nein«, sagte Senta leise, angestiftet vom Flüstern des Mannes. »Ich will nur wissen, wo jemand ist.«
»Ist das die Wahrheit«, plauderte er im Flüsterton weiter, »so simpler Pragmatismus ist bei mir nicht zu bekommen.« Er griff unter den Tisch, hielt einen Stapel Karten wie einen spitzen Gegenstand zwischen den Fingern.
»Aber finden werden wir schon was«, grinste er. Draußen wieherte ein Pferd, dahinter klirrte die Musik eines Fahrgeschäfts. Unbeirrbar ruhig zeigte der Mann mit einer einladenden Hand auf den ledernen Sitzsack, Senta erkannte im Kerzenlicht neben ihm eine Stehlampe mit gedrehten Trotteln am Schirm, ein Schalterknipsen, und sie hätte die Tiefe des Raumes hinter ihm sehen können. Aber alles blieb so dunkel, wie es war. Etwas in ihr knickte ein.
»Ich sag immer das, was ich eigentlich nicht sagen will«, sagte sie leise, »ich verstehe es nicht, wie es kommt. Ich will ja sagen und sage nein, ohne eine Absicht, es kommt einfach dazu, als käme mir das richtige Wort grad nicht in den Sinn. Ich will nein sagen, gerade zu meinem Mann, er kann nicht einfach so über uns entscheiden, mir meine Aufgabe wegnehmen, wenn er die Kinder in diese Schulen gibt, was soll ich dann machen? Und ich sag wieder ja statt nein, es ist wie ausradiert, als hätte ich vergessen, daß ich das Wort kenne. Deshalb sage ich am liebsten nichts, ja, es ist so viel einfacher, statt ständig das Falsche zu sagen, verstehen Sie, was ich meine?«
Er mischte nur seine Karten in einem mechanischen,höchst eleganten Schwung, ein papiernes Schnalzen nach dem nächsten, so klackte er die Karten in Kreuzform auf den Tisch. Akkurat, mit ihren rätselhaften Motiven, das
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