Das Glück einer Sommernacht
hartherzig, wie er die Welt gern glauben machen wollte.
Den Kampf um Puddin’s Rechte hatte Kelsey zwar gewonnen, aber sie durfte den Bogen nicht überspannen. Sonst schlug Alex die Drohungen seines Verlegers doch noch in den Wind und warf sie endgültig hinaus. Also nahm sie den Kater zur Sicherheit über Nacht mit in ihr Zimmer, damit er Alex nicht mehr über den Weg lief.
„Je weniger er dich sieht, desto besser, mein Freund“, erklärte sie dem Tier.
Puddin’ schien das alles nicht zu kümmern. Er rollte sich auf ihrer Steppdecke zusammen und schnurrte behaglich.
Am nächsten Morgen erwachte sie vor Sonnenaufgang und setzte den gekränkten Puddin’ auf die Stufen vor die Haustür. Dann fuhr sie in die Stadt. Die vorletzte Zahlung für Grandma Rosie war fällig, und sie wollte den Scheck zur Sicherheit als Einschreiben schicken.
Wenige Stunden zuvor war das Unwetter weitergezogen und hatte nur ein paar abgebrochene Zweige und jede Menge Pfützen hinterlassen. Als sie auf die Hauptstraße einbog, sah sie einen Technikerwagen und Männer, die die Stromleitungen wieder instand setzten. Es versetzte ihr einen seltsamen Stich der Enttäuschung. Sie wollte doch nicht etwa noch eine Nacht im Finstern mit Markoff verbringen, in dieser merkwürdig aufgeladenen, gleichzeitig intimen und geheimnisvollen Atmosphäre! Oder?
Sie war so früh dran, dass es überall noch reichlich Parkplätze gab. Später am Tag würde sich das ändern. Stockbridge war eines der typischen verschlafenen Städtchen in den Berkshires, die jeden Sommer völlig überlaufen waren. Dann reihte ein Festival sich an das nächste, Gastspiele von Symphonieorchestern folgten auf Ausstellungen moderner Kunst. Heerscharen von Touristen, vor allem aus New York, fielen in die Gegend ein, um die ländliche Idylle zu genießen, und brachten sie gleichzeitig damit gründlich durcheinander.
Für die Einwohner waren die Touristenströme im Sommer sicher ein zweischneidiges Schwert, einerseits eine willkommene Einnahmequelle, andererseits eine lästige und nachhaltige Störung.
Außer für Alex, dachte Kelsey. Er verabscheut sie einfach nur.
Am Postbüro sah sie, dass ihr noch eine Viertelstunde blieb, bis der Schalter öffnete. Also fuhr sie die Straße entlang weiter zu Leafy Bean. Farley Grangerfields Lebensmittelladen verkörperte perfekt die typische Atmosphäre des Städtchens und dieser Gegend. Er war halb Kaufladen, halb Café, halb Gourmet-Tempel und bot einfach alles, von importiertem Mandelöl bis zu hausgemachten Kuchen mit buntem Zuckerguss in allen Farben. Dazu gab es eine Selbstbedienungstheke mit einer beeindruckenden Auswahl an frischem Kaffee.
Eine große Kupferglocke bimmelte über der Tür, als Kelsey eintrat. Farley Grangerfield stand hinter dem Ladentisch. Eine große grüne Schürze verhüllte seine massige Gestalt. Seine Hände und Unterarme waren mehlbestäubt.
„Guten Morgen, Farley“, grüßte sie und erhielt ein Grunzen zur Antwort. „Das war ein ganz schönes Unwetter gestern Abend, nicht? In Nuttingwood ist der Strom ausgefallen.“
„Was erwarten Sie schon, da draußen in der Wildnis.“
Allein, wo einen niemand findet. „Das ist es wohl gerade, was Mr Markoff daran mag“, bemerkte sie. „Es ist einsam.“
„Er ist ein echter Eremit“, murmelte Farley zurück.
Der Eremit von Nuttingwood. Nicht schlecht. Es klang traurig und geheimnisvoll. Jetzt, wo sie Alex Markoffs Geschichte zumindest teilweise kannte, konnte sie verstehen, dass er Privatsphäre wollte. Obwohl es ihr sehr extrem erschien, sich gleich fünf Jahre lang in die Bergwälder zurückzuziehen. Das Leben war nicht immer fair, das wusste sie selbst gut genug. Menschen benutzten andere Menschen ständig. Man lernte eben, sich anzupassen.
So wie man lernte, innerlich Abstand zu halten. Sich um sich selbst zu kümmern. Von niemandem abhängig zu werden und nie zu weit voraus zu denken. Wenn man sich nicht den Luxus eines Rückzugs in die Berge leisten konnte, waren diese Regeln überlebenswichtig.
Kelsey wusste das so gut, weil sie diese Regeln seit ihrem vierten Lebensjahr, seit dem Tod ihrer Mutter, befolgt hatte. Bis zu dieser Woche. Was hatte Alex Markoff an sich, dass sie ihre wichtigsten Überlebensstrategien in letzter Zeit dauernd vergaß?
„Nehmen Sie sich einen Kaffee, solange es noch geht“, bemerkte Farley und kam um den Tisch herum. Er schenkte sich ebenfalls einen Becher ein. „Wenn die Touristen erst aufgewacht sind, räumen sie den
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