Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)
Säugling zu beruhigen. Thomas’ Augenringe reichen ebenfalls bis zu den Mundwinkeln. Er schläft inzwischen im Wohnzimmer. Kaum ist das Baby ruhig, fängt Tim an. Fröhlich hopst er auf meinem Bett herum und will spielen. Das Baby wacht wieder auf. Ich schleppe mich auf dem Zahnfleisch in die Küche. Sechs Uhr morgens. Das Baby schreit. Sita bellt. Geräuschkulisse wie auf dem Rummel. Tim jammert, weil er seine Lieblingshose nicht findet. Gedankenlos sage ich: »Sie ist bestimmt irgendwo.« Das motiviert Tim, sie selbst zu suchen, und er schreckt weder vor der schmutzigen noch der sauberen Wäsche zurück, die er nach einem nur ihm schlüssigen System neu sortiert.
Thomas kocht Tee und versucht sich auf seinen Arbeitstag vorzubereiten. Sein Gesicht wirft Falten. Wir sehen beide alt aus. Sehr alt. Wir altern eigentlich stündlich. Über die Hauptstraße brettert ein Krankenwagen. Sita legt los wie immer bei Martinshorn. Ihr Jaulen dringt durch Mark und Bein. Tim hat seine Hose nicht gefunden und braucht sie jetzt erst recht dringend. Ohne diese Hose wird er das Haus nicht verlassen! Im Vorübergehen reißt er aus Versehen die Tischdecke herab. Die Fernbedienungen fallen zu Boden, die Batterien kullern über das Parkett. Sita stürzt sich auf die Beute, Thomas hinterher, bleibt mit dem Fuß in der Tischdecke hängen, stolpert, stürzt. Das Telefon klingelt. Der Kindergarten. Heute wegen Scharlach geschlossen.
Sollte so meine Zukunft aussehen? Und wenn schon. Ich hatte mich entschieden und sagte erst mal »Ja!« zu Thomas. Am 4. Juni 2010 heirateten wir, eine Woche vor dem geplanten Kaiserschnitt. Eigentlich hatte ich gar nicht mehr heiraten wollen. Ich kenne mehrere Paare, die mit Kindern auch ohne Trauschein glücklich leben. Eine Heirat ist keine Voraussetzung für eine abgesicherte Familie. Heutzutage gibt es genug juristische Alternativen. Doch letztlich brach die Romantikerin in mir durch, und die wollte das, was ich mir schon als kleines Mädchen gewünscht hatte. Das volle Programm. Wir beschlossen, es in zwei Häppchen aufzuteilen. Zuerst die standesamtliche Hochzeit im kleinen Kreis und ein Jahr später die kirchliche Hochzeit im großen Kreis.
Wenn ich abgestillt haben würde, würde ich mich auch wieder über schöne Hochzeitsfotos freuen können. Jetzt war ich noch fett wie ein Walross. Und zwar überall. Nicht bloß am Bauch und im Gesicht. Auch an den Händen. Das wurde zum Problem, denn als Thomas und ich bei einem Juwelier Ringe aussuchten, brachte ich keines der Schmuckstücke über meine geschwollenen Finger. Die Wassereinlagerungen waren auch in der zweiten Schwangerschaft ein arges Leid für mich. Manchmal taten mir meine Hände so weh, dass ich nicht mal die elektrische Zahnbürste halten konnte. Mit solchen Greifern lässt sich kein Geschmeide auswählen.
»Ich kenne meine Ringgröße«, sagte ich zu der Verkäuferin. »Machen Sie es einfach so.«
»Aber nein! Das geht nicht! Sie müssen Ihren Ring anprobieren.«
»Das bringt Unglück«, erfand ich eine Ausrede.
»Aber nein! Alle Paare probieren ihre Ringe an.«
»Da wundert einen die hohe Scheidungsrate nicht«, blieb ich dabei.
Thomas knuffte mich. Ich knuffte zurück.
Es kostete uns einige Überzeugungsarbeit, die Ringe ohne Anprobe meinerseits in Auftrag zu geben.
»Ob das mal gutgeht«, seufzte die Verkäuferin.
Als Thomas die Ringe abholte, drängte sie erneut auf eine Anprobe, und Thomas rief mich sogar an.
Wieso hielten mir alle ständig vor, wie dick ich war? Sogar meine Finger hatten Übergewicht. So meinte das natürlich niemand. Doch das musste ich mir extra vorsagen.
Im Standesamt, der alten Limbacher Mühle, tat Thomas dann so, als würde der Ring wunderbar passen, und schob ihn mir flugs über den kleinen Finger. Später befestigte ich ihn an einer schlichten Silberkette, die mir Thomas einmal geschenkt hatte, und trug meinen Ehering fürs Erste um den Hals.
Nach der Trauung gingen wir Mittagessen. Ich fühlte mich überraschend gut an diesem Tag. Unsere Gäste wussten, dass die Feier notfalls ohne die Braut stattfinden würde. Ich hatte alle vorgewarnt, dass ich mich vielleicht nach der Zeremonie hinlegen müsste. Doch ich hielt durch. Nachmittags gab es bei Thomas’ Großeltern liebevoll gedeckt Kaffee und Kuchen, und abends ließen wir den schönen Tag bei uns ausklingen.
So wurde aus Ines Kiefer Ines Kiefer-Müller. Eigentlich hätte ich gern weiterhin Kiefer geheißen, an den Namen hatte ich mich
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