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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Wäsche-Ausfahrer. Er ist davon überzeugt, daß die meisten Fahrer zeitraubende Umwege fahren und dabei heimliche Pausen machen. Es gehört zu meinen Aufgaben, die Fahrer von Zeitzu Zeit zu observieren, das heißt, ihnen nachzufahren und festzustellen, wo sie die Fahrzeuge parken, ob und wo sie ein zweites Frühstück einnehmen oder private Angelegenheiten erledigen. Ich mache das ungern, weil die Fahrer (und die anderen Kollegen) sowieso schon das Gefühl haben, zu stark kontrolliert zu werden.
    Eigendorff beauftragt mich, mir für die Kampagne ein paar Werbesprüche einfallen zu lassen, außerdem Texte für Zeitungsanzeigen und einen zündenden Werbebrief an die Kunden. Ich bin für diese Aufgabe nicht geeignet, aber Eigendorff hält auch die Fachleute in den Werbeagenturen für Betrüger und außerdem will er auch hier Geld sparen. Frau Weiss, meine Stellvertreterin, soll neue Kunden akquirieren, und zwar solche, in deren Geschäftsleitung eine Frau sitzt, die Frau Weiss »von Frau zu Frau beatmen kann« (das ist ein Ausdruck von Eigendorff). Frau Weiss macht sich Notizen, seufzt fast unhörbar und schaut aus dem Fenster. Frau Weiss wird demnächst 46 Jahre alt und leidet unter ihrer größer werdenden Brust. Sie will ihren Busen zusammenpressen und trägt deswegen zu enge BHs, wodurch ihre Brüste über die oberen Körbchenränder hinausquellen und der Eindruck einer über die Brüste hinauswachsenden zweiten Brust entsteht. Es ist merkwürdig, daß Eigendorff von seinem Doppelkinn nicht sichtbar beeinträchtigt ist, obwohl ein Doppelkinn nicht weniger auffällt als eine sich entwickelnde Doppelbrust. Meine Vermutung ist, daß Männer die größeren Melancholiker sind und körperliche Verschlechterungen leichter hinnehmen als Frauen, die viel zu heftig ihrer verschwundenen Jugendlichkeit nachtrauern, was Männer nicht tun. Es gibt kaum jemand im Betrieb, dem Frau Weiss nicht schon mitgeteilt hat, daß sie in ihrer Jugend die Figur einer Gazelle hatte und erst seit ihrem vierzigsten Geburtstag »so stark aus sich herausgeht« (ihre Formulierung), obwohlsie Diät hält und sogar einmal in der Woche schwimmen geht. Eigendorff hingegen hat noch niemand gesagt, daß er bis zu seinem dreißigsten Jahr kein Doppelkinn hatte; so etwas sagt ein melancholisch durchtrainierter Mann nicht.
    Später stelle ich die Einsatzpläne für die kommende Woche zusammen und überlege dabei erneut, wie ich die Fahrtrouten von Fahrer 7 (Lubitschke) und 11 (Kottka) besser aufeinander abstimmen kann. Mir ist klar, daß das Wort Abstimmung wieder nur ein anderes Wort für Kontrolle ist und daß sowohl Lubitschke als auch Kottka kaum noch Spielraum übrig haben. Am Spätvormittag, eine halbe Stunde vor der Mittagspause, treibe ich mich unter Vortäuschung von Kontrollgängen in den Waschanlagen herum. Ich führe kurze Gespräche mit den Operateuren und den Büglerinnen, ich frage sie, wie sie zurechtkommen und ob es irgend etwas gibt, was ihrer Meinung nach geändert werden muß. Aber die Leute sind guter Dinge (jedenfalls tun sie so) und halten den Mund. Frau Schölderle aus der Buchhaltung macht mich mit dem Fall des Hotels Traube im Rheingau vertraut, das trotz mehrerer Mahnungen die letzten drei Wäsche-Rechnungen nicht bezahlt hat. Ich nehme die Akte an mich und sage, daß wir unseren Anwalt einschalten werden. Das machen wir tatsächlich, obwohl wir alle wissen, wie solche Fälle ausgehen: Letzte Mahnung, Insolvenz, Abschreibung, Zwangsversteigerung, Verlust. Frau Schweters Schwangerschaft wird langsam sichtbar. Sie ist jetzt vermutlich im sechsten Monat. Ich gestehe mir ein, daß die Schwangerschaft Frau Schweter gut steht. Sie ruft konventionelle Beschützerinstinkte in mir hervor, aber ich finde ihre Schwangerschaft auch anziehend, was mich in meiner derzeitigen Verfassung wundert. Ich habe, solange Frau Schweter nicht schwanger war, kein einziges Mal die Lockung verspürt, ihr näher zukommen, als mir zusteht. Jetzt aber, mit dem kleinen hübschen Bauch, stelle ich mir vor, daß es schön gewesen sein muß, Frau Schweter zu schwängern. Ich nehme an, diese Anwandlungen verschwinden wieder, wenn Frau Schweter entbunden hat. Prompt wirke ich volkspädagogisch auf mich ein. Du solltest Traudels Kinderwunsch und alles, was daraus folgt, mit männlicher Gelassenheit hinnehmen. Aber Gelassenheit stellt sich nicht wirklich ein. Im Gegenteil, ich bin gereizt und nehme Anstoß an Einzelheiten, die ich sonst übersehe. Frau Dr. Beerlage,

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