Das Glück in glücksfernen Zeiten
Kinderwagen, die beiden anderen stiefeln nebenher. Der Vater folgt mit dem Fahrrad. Er pöbelt Schimpfworte nach vorne, an die sich die Familie gewöhnt hat. Rentner in Trainingsanzügen tragen den Mief ihrer Wohnungen auf die Straßen. Doch da sehe ich, ordentlich geparkt, einen Lieferwagen der Großwäscherei Eigendorff am Straßenrand. Er trägt die Nr. 6, also ist es der Wagen von Wrede. Das sieht nach einer wilden Pause aus. Ich suche für meinen Firmenwagen einen Parkplatz. Links erstreckt sich ein sogenannter Volksgarten, der für zu viele Menschen ein Ort der Erholung sein muß. Ich verberge mich, so gut ich kann, hinter mannshohen Holunderbüschen. Meine Vermutung ist: Wrede sitzt im Volksgartenund rechnet niemals damit, daß ich ihm auf der Spur sein könnte. Obwohl der Volksgarten bereits überfüllt ist, treffen immer noch Mütter mit Kinderwagen und alte Leute ein. Ein leichter Wind treibt herumliegende Blütenblätter an die Wegränder und sammelt sie dort zu einem rasch verwelkten Saum. Obwohl mir gerade niemand etwas zuleide tut, komme ich mir mißbraucht vor. Wenn niemand mich mißbraucht, denke ich, daß ich schon immer mißbraucht gewesen bin und deswegen die allerneuesten Fälle meines Mißbrauchs gar nicht mehr bemerke. Sekunden später fällt mir ein, daß ich mich gerade eklatant mißbrauchen lasse: als Firmenspitzel. Ich überlege eine Weile, ob ich den Observierungsauftrag von Eigendorff hätte zurückweisen können. In meinem Anstellungsvertrag steht kein Wort davon, daß ich eines Tages Arbeitskollegen belauern werde. Aber ich hätte auch nicht sagen können: Herr Eigendorff, das geht zu weit. Diese wachsende Unfreiheit in den Verhältnissen nennt man Verstrickung. Leute, die ihre Konflikte nicht lösen können, tragen diese in unbearbeiteter Form weiter mit sich herum, als eine Art metaphysische Bestürzung. Seit wenigen Augenblicken weiß ich, daß ich zu diesen bestürzten Menschen gehöre. Ich lebe jetzt als bestürzter Mensch weiter. Ich erleide eine kleine innere Schwäche und seufze. Gleichzeitig freue ich mich, daß ich wenigstens (noch) denken kann. Dieser Tage habe ich im Radio eine Cello-Sonate von Bach (Bach-Werke-Verzeichnis Nr. 1008) gehört. Die Sonate hat mich, wie ich jetzt merke, für die nun eingetretene Bestürzung geöffnet. Ich lebe in diesen Minuten wie eine Cello-Sonate von Bach: Nirgendwo befestigt, vorüberschwebend, angeknittert, dunkel, im Kern unverständlich, obwohl jedem Menschen sofort einleuchtend. Trotz meiner Schwäche gehe ich hinter Holunderbüschen entlang und halte Ausschau nach Wrede.
Von der anderen Seite des Volksgartens tönt der Lärm eines kleinen Rummels herüber. Man hört das Schleifen und Scheppern von Fahrgeschäften, dazu das Gejammer einer billigen Musik. Hinter dem Rummel erhebt sich ein Rangierbahnhof, in dem gerade ein Güterzug zusammengestellt wird. Das Aufeinanderstoßen der eisernen Waggons ist das einzige authentische Geräusch. Ich nenne den Volksgarten einen Garten ohne Hoffnung und fühle mich dadurch für Augenblicke wohl. Im Vordergrund säubert ein Mann mit einem Eisenbesen den Weg. Eichhörnchen und Tauben rascheln in Abfällen. Nach vielen sonnigen Tagen ist das Gras verdorrt, zum Teil versengt. Obwohl der Volksgarten der völlig falsche Platz dafür ist, empfinde ich Sehnsucht, etwas ganz und gar Richtiges tun zu wollen. Eine junge Frau mit tiefem Ausschnitt ißt Trauben. Ich sehe das wunderbare Zusammenpassen der Frau, ihrer Brüste und der Trauben und empfinde Glück und Unruhe. An der nördlichen Grenze des Volksgartens wird eine Art Gastwirtschaft sichtbar. Meine Lust, die beiden Fahrer zu finden, nimmt ab. Aus Langeweile spiele ich mit dem Kleingeld in meiner Hosentasche. Ich habe es gern, wenn sich in meinen Hosentaschen Münzen ansammeln. Es darf sich allerdings nicht zuviel Kleingeld ansammeln, weil ich dann nämlich glaube, das Kleingeld sei ein Indiz für meine kommende Bewährung im Lebenskampf. Immerzu bewegen sich schwere Dinge in meinem Inneren. Denn ich bin immer auch ein Mann, der ein kommendes Unglück zwar spürt, aber nicht aussprechen kann. Es müßte jetzt etwas Einfaches geschehen, damit ich nicht in eine problematische Stimmung hineinrutsche. Wenn es eine Metzgerei in der Nähe gäbe, würde ich mir jetzt eine heiße Wurst und ein Stück Brot kaufen. Die Scheibe Brot würde ich nicht essen, sondern in meine Brieftasche stecken und mir vorstellen, ich würde die Scheibe Brot bei nächster Gelegenheit
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