Das Glück in glücksfernen Zeiten
anstellemeiner Brieftasche aus der Tasche ziehen und sie jemandem anstelle eines Geldscheins hinhalten. Immerhin, allein der Einfall ruft eine gewisse Heiterkeit in mir hervor. Ich komme an einem kleinen Kaufhaus vorbei, vor dessen Eingang ein paar Kisten mit Sonderangeboten aufgebaut sind. Wie üblich ziehen tatsächlich Leute grüne Hosen und zitronengelbe T-Shirts hervor, grün-blau geringelte Socken, blau-weiß gestreifte Strandtaschen und rot-weiß gewürfelte Badetücher. Die Leute glauben, durch Farbe kommt endlich Leben in ihren Alltag, man faßt es nicht. Am Himmel ertönen die Schreie von drei Möwen. Ich blicke hoch und erfreue mich an den silbrig-weißen Leibern der Vögel. Es gefällt mir, daß am Himmel Schreie ertönen. Dort oben ist es auch nicht besser als hier unten. Mir fällt meine tote Mutter ein, die mir oft vorgeworfen hat, daß ich meine Zeit verplempere. Ausgerechnet meine Mutter, die ihr ganzes Leben verplempert hat, was ihr nicht aufgefallen ist. Genau in diesen Augenblicken sehe ich an einem Gartentisch den Fahrer Wrede. Kurz danach den Fahrer Ehrlicher. Sie haben große Biergläser vor sich stehen und schweigen miteinander. Sie tun genau das, was Eigendorff so oft befürchtet: Sie verprassen die von ihm bezahlte Arbeitszeit zu privaten Zwecken. Ich könnte herausfinden, wo Ehrlicher seinen Wagen geparkt hat. Wichtiger ist, daß ich mein gutes Versteck (immer noch hinter den Holunderbüschen) halte. Ich notiere mir, wann ich die beiden entdeckt habe: um 16.15 Uhr. Eine leichte Erregung durchzieht mich. Morgen wird es meine Pflicht sein, Eigendorff von meiner Entdeckung zu berichten. Die Jobs von Wrede und Ehrlicher sind akut gefährdet. Wenn ich meine Beobachtungen für mich behalte, könnte die Sache in mein Auge gehen, falls ein Dritter den Vorgang mitgekriegt hat. Ehrlicher bestellt ein weiteres Glas Bier. Die Sonne ist jetzt auf Baumwipfelhöhe herabgesunken. Wrede und Ehrlicherwerden von hinten bestrahlt. Die Schreie der Möwen hören sich jetzt an wie: Nie nie nie! Wirst du so wie die! Nie nie nie! Ich habe den Eindruck, daß die beiden Fahrer ein bißchen einfältig sind. Sie würden intelligenter handeln, wenn sie intelligenter handeln könnten. Sie können es nicht, man muß Mitleid mit ihnen haben. Mit dieser feinen inneren Umschreibung vermeide ich die Feststellung, daß Wrede und Ehrlicher ein bißchen dumm sind, was man heutzutage nicht mehr sagen darf. Gerade jetzt fällt mir meine Hose auf dem Balkon ein. Ich stelle mir ihr Bild vor (das leise Hin- und Herwanken im Wind) und empfinde Zufriedenheit dabei. Die Hose verwittert an meiner Statt und stößt mich dadurch in eine angenehm schmerzfreie Schicksalsgleichgültigkeit hinein. Die Schwierigkeit wird sein, Traudel beizubringen, daß die Hose vielleicht für immer auf dem Balkon hängen bleibt, auf jeden Fall für eine längere Zeit. Ich muß mir schleunigst wenigstens eine neue Hose kaufen, am besten gleich zwei, damit Traudel nicht denkt, ich würde mich selbst vernachlässigen. Die beiden ahnungslosen Fahrer bleiben bis kurz vor 17.00 Uhr in der Gartenwirtschaft, dann stehen sie auf und trotten davon. Der Eindruck ihres mürben Davonschleichens weckt Mitleid in mir. Wahrscheinlich setzen sie sich jetzt in ihre Lieferwagen und treffen etwa gegen 17.30 Uhr auf dem Betriebshof der Wäscherei ein. Es wird so aussehen, als hätten sie eine halbe Überstunde gemacht. Ich weiß nicht, ob der Anblick der beiden Fahrer der Grund dafür ist, daß ich mir jetzt selbst bedürftig vorkomme. Wenn es Abend wird, fühle ich mich häufig mangelhaft und unerlöst. Mein Ausweg ist: Ich tue so, als hätten meine Defizite sexuelle Ursachen. Dabei ist mir klar, daß ich Traudel nicht schon wieder auf den Leib rücken darf. Dann würde sie wieder sagen, sie hätte nie für möglich gehalten, daß ein so gebildeter Mensch wie ich so heftig diesen doch eher schlichten Freuden nachjagt.Ich verlasse mein Versteck hinter den Holunderbüschen und gehe zu meinem Firmenwagen. Traudel überschätzt meine Bildung. Sie läßt sich von meinem Doktortitel blenden, ohne zu ahnen, obwohl ich ihr diese Ahnung schon oft habe vermitteln wollen, daß es Abertausende solcher überflüssiger Spezialisten gibt wie mich, die sich am Ende eines überlangen Studiums auch noch entschlossen haben, sich auf ein paar abwegige Bildungssplitter zu stürzen und über sie zu promovieren. Die Universitäten dürfen diese glanzlosen Eiferer nicht abweisen, was sie im Grunde
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