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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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die Assistentin von Eigendorff, spitzt ihren Bleistift, und ich rieche die kleinen Holzsplitterchen, die aus ihrem Bleistiftspitzer herausquellen, ich rieche sogar die winzigen Abschabungen der Bleistiftmine. Herrn Walzens Rundschädel und seine fleischigen Ohren empfinde ich in diesen Augenblicken als Zumutung. Wenn Herr Walz lacht (wie in diesen Augenblicken), kriegt er das dicke Gesicht einer Comic-Figur. Ich bin nicht verlassen, aber warum fühle ich mich einsam? Frau Weiss gehört zu den vielen Menschen, die das, was sie erleben, als nicht ausreichend empfinden. Deswegen fühle ich mich ihr oft nahe. Wahrscheinlich hat sie sich gestern abend einen schlechten Film angesehen und hat schon vorher gewußt, daß sie von diesem peinlichen Erlebnis niemandem wird erzählen können. Sie besucht zuweilen einen obskuren Fotografen, von dem sie weiß, daß er sie nicht fotografieren, sondern anfassen will. Sie schläft mit einem Beinamputierten, weil sie wissen will, wie es ist, mit einem Beinamputierten zu schlafen. Vielleicht sind diese Geschichten zur Hälfte erfunden, aber man glaubt sie gerne, weil sie so gut zu Frau Weissens zur Schau gestellter Bedürftigkeit passen. Über drei Schreibtische hinweg entsteht eine Unterhaltung, ob es sinnvoll ist, Straßenbettlern etwas zu geben. Wenn man ihnen einmal etwas gibt, kommen sie immer wieder, sagt Herr Walz. Das ist doch klar, sagt Frau Schweter,auch Bettler lieben feste Verhältnisse. Alle tun wieder so, als würden sie das Leben verstehen. Unglaublich! Das Gefühl der Einschnürung wird dichter. Leider bin ich schnell abgestoßen. Zuerst bin ich lange lustlos, dann lange angeödet, dann stark abgestoßen und fluchtbereit. Insofern ist es für mich eine kleine Erlösung, daß am Frühnachmittag Eigendorff an meinen Schreibtisch herantritt und mich beauftragt, die Routen der Ausfahrer Wrede und Ehrlicher zu kontrollieren. Wrede und Ehrlicher hat Eigendorff schon lange im Visier. Sie fahren fast gleichzeitig nahe beieinanderliegende Routen ab und kehren oft fast gleichzeitig zurück, das sieht ein bißchen verdächtig aus.
    Schon in den Augenblicken, als ich mich erhebe, spüre ich die Erleichterungen des Verschwinden-Dürfens. Ich nehme die Autoschlüssel an mich und ziehe meinen Sakko an. Flüchtig-Sein ist ein guter Zustand, weil sich während des Fliehens die Gründe der Flucht unmerklich auflösen. Schon oft war ich sonderbar berührt, daß ich, an einem Ziel angekommen, leicht einsehen konnte, daß die Flucht überflüssig war. Wrede fährt durch die Vororte Sandheim, Waldburg, Almendorf, von dort nach Buchenhof und am Ende nach Brunnenhausen. Ehrlicher fährt die lange Friedrich-Karl-Straße hinunter, bedient dort das Rosenthal-Hotel und das Palais Theresia, zweigt danach in die Röntgen-Straße und beliefert den Vorort Heiligenstadt und nähert sich dann der Route von Wrede. Ich setze mich in den Wagen und verlasse den um diese Zeit ruhig daliegenden Fahrzeughof der Großwäscherei Eigendorff. Schon nach fünfzehn Minuten stecke ich im Billiggetümmel der Vorstädte. Die Gegenden hier haben wenig Ausdruck; beziehungsweise, es ist schlimmer: Sie haben überall denselben Ausdruck. Obwohl die Straßenzüge abstoßend und formlos sind, fühle ich mich hier frei. Ich lebe auf, wenn ich mich von etwas abwendenkann. Die Autos parken ruhig am Straßenrand, die Mülltonnen stehen ordentlich nebeneinander, die Gardinen hinter den Fenstern sind angenehm grau, junge Mütter heben vorsichtig ihre Säuglinge in den Kinderwagen. Ich möchte der Gegend zurufen: Welche Verheimlichungen sind denn hier im Gange? Natürlich sagt es mir niemand. Nach kurzer Fahrzeit lande ich in rumpligeren Verhältnissen, die sofort gestehen, daß sie mühsam zusammengeflickt sind und bei nächster Gelegenheit auseinanderfallen werden. Es ist merkwürdig, daß Fremde hier übernachten wollen und daß es deswegen auch hier Hotels gibt. Die Straßenzüge ähneln jetzt immer mehr einem nicht mehr gepflegten Zoo. Die Leute leben zwar, aber sie haben vergessen, wo sie einmal zu Hause waren, so ähnlich wie traurige Zoo-Tiere in ihren Gattern. Der Blick fällt auf verstopfte Abfallkörbe, nicht weggeräumte, vermoderte Blätter vom Vorjahresherbst, leerstehende Geschäfte, in den Kaufhauseingängen herumliegende Obdachlose und Gestrandete, dazu immer mehr Asiatenbasare, wo es Plastiksandalen, Gummirosen und Strohperücken zu kaufen gibt. Ich betrachte eine Frau mit drei kleinen Kindern. Ein Kind sitzt im

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