Das Glück reicht immer für zwei
Mias Leben nicht durcheinandergebracht. Aber sie konnte es nicht wirklich beurteilen. Seit ihre Schwester die Schule verlassen hatte, war ihr Leben chaotisch und planlos verlaufen. Sie wechselte von einem Job zum anderen, von einem Land zum anderen, und wie es schien, von einem unpassenden Mann zum nächsten. Wobei es nie an unpassenden Männern mangelte. Bereits in der Schule war Mia mit einer Reihe von Jungen gegangen, die in Britts Augen samt und sonders Faulenzer und Drückeberger waren. Paula hatte mal gesagt, dass ihre jüngere Tochter eine kurze Aufmerksamkeitsspanne habe, und Britt stimmte ihr zu. Mia hielt immer Ausschau nach etwas oder jemand Neuem oder nach einem neuen Ort. Allerdings anders als Britt. Britt interessierte sich für Neues, um ihre Karriere voranzubringen. Mia hingegen lechzte ständig nach neuen Erfahrungen um der Erfahrung willen. Nun, dachte Britt, was Allegra anbelangte, war es ein Volltreffer gewesen. Britt konnte sich nicht vorstellen, wie es war, ein Kind allein großzuziehen, sie wusste nur, dass es furchtbar schwierig sein musste. Ebenso wenig konnte sie sich Mia als Mutter vorstellen. In ihren Augen war ihre Schwester bei Weitem zu desorganisiert dafür. Doch Paula meinte, ihre Tochter erfülle ihre Mutterrolle großartig, insbesondere wenn man bedenke, dass sie ihr Kind nicht nur allein großziehe, sondern noch dazu in Sierra Bonita, einem weit entfernten Ort, wo sie keinerlei Unterstützung durch ihre Familie erfuhr. Um sich dann im selben Atemzug über Mias Entscheidung auszulassen,
nach Spanien zu ziehen, was Paula für eine Schnapsidee hielt, da sei Britt doch einer Meinung mit ihr, nicht wahr? Britt gab stets eine unverbindliche Antwort. Wie immer widerstrebte es ihr, sich auf jemandes Seite zu schlagen, wobei sie tief in ihrem Inneren ihrer Mutter recht geben musste.
Jetzt sah sie ihre Schwester verstohlen von der Seite an, die gerade mit den Füßen in grün fluoreszierende Flip-Flops mit zitronengelben Perlen schlüpfte. Zum wiederholten Mal fragte sie sich, was, um Himmels willen, sie dazu bewogen hatte, Mia zu fragen, ob sie sie auf dieser Reise begleiten wolle. Schließlich war es nicht so, dass sich die beiden Schwestern noch besonders nahestanden. Geschweige denn, dass sie Mia als für besonders geeignet für die Rolle einer Assistentin hielt. Doch die Vorstellung, allein diese Valentins-Kreuzfahrt zu bewältigen, hatte sie in Panik versetzt. Sie hatte das Gefühl gehabt, jemanden an ihrer Seite zu brauchen. Es war ein ziemlich untypischer Moment der Schwäche für sie gewesen; und nun fragte sie sich, ob es nicht ein großer Fehler gewesen war, sich Mia als Begleiterin auszusuchen.
Vielleicht wäre sie auch gut allein zurechtgekommen. Doch unmittelbar nachdem Meredith, ihre Agentin, sie angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass sie nicht mitkommen könne, hatte sie ganz anders gedacht. Meredith hatte sich zutiefst zerknirscht gezeigt, war doch diese Seereise ihre Idee gewesen. Sie war bei folgender Gelegenheit geboren worden: Früher einmal hatte Meredith mit der heutigen PR-Chefin von Blue Lagoon, der Kreuzfahrtreederei, eine Wohnung geteilt. Als sie Annie Highsmith dann bei ihrem halbjährlich stattfindenden, gemeinsamen Abendessen in einem der gerade angesagten Londoner Hotspots wiedertraf (an jenem Abend war es ein in Schwarz und Silber gehaltenes Restaurant, in dessen schummriger Beleuchtung man kaum sah, was man auf dem Teller hatte), erzählte Annie ihr, sie suche eine zündende Idee für eine weitere Attraktion im Rahmen des Blue-Lagoon-Unterhaltungsprogramms.
Da hatte Meredith den Einfall, eine Schriftstellerin an Bord einzuladen, um Workshops und Vorträge über das Schreiben von romantischen Liebesromanen zu halten. Meredith schlug Britt als »Writer in Residence« vor, deren Roman sich wie warme Semmeln verkaufte. Annie nickte bedächtig, und, voilà, die Idee mit den Workshops auf dem Schiff war geboren. Schließlich, so fuhr Meredith fort, würde den Passagieren das ewige Rumknutschen irgendwann langweilig werden, sodass man sie anderweitig beschäftigen müsse. Und man glaube ja nicht, wie viele Leute es gab, die ein Buch schreiben wollten. Und wer könnte es ihnen besser beibringen als Brigitte Martin, die Autorin des meistdiskutierten Buches des Jahres? Es wäre ein echter Coup für Blue Lagoon, Brigitte dafür zu gewinnen. (Meredith nannte sie nur Britt, wenn sie unter sich waren: In ihren Augen war es äußerst wichtig, die Privatperson von der
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