Das Glück über den Wolken: Roman (German Edition)
»böse« sein würde, so wie ihre Familie ihn beschrieben hatte, obwohl sie sich schon bald fragte, wieso sie das geglaubt hatte. Ihre Familie lag bei Dingen, die wirklich zählten, extrem oft falsch. Doch schon in dem Moment, in dem der alte Mann Sophie, die eine enge Jeans trug und ihr Haar zu einer Art Nest nach oben gesteckt hatte, die Tür öffnete, erkannte sie, dass er vielleicht eingefahren und möglicherweise auch ein bisschen gelangweilt, jedoch ganz sicher nicht böse war. Sophie, die eine Kombination aus Fagin und Scrooge, den beiden bekannten Figuren von Charles Dickens, erwartet hatte, sah einen freundlichen alten Mann in einer schäbigen, aber gut sitzenden Anzughose, einer Strickjacke mit einem Loch und einer Krawatte, die dringend gebügelt werden musste. Sie wollte dieses Loch sofort stopfen – wenn nicht im wörtlichen, dann doch im emotionalen Sinne. Onkel Eric brauchte ihre praktischen Fähigkeiten, und sie beschloss, dass er in ihren Genuss kommen würde.
Er führte sie ins Wohnzimmer und reichte ihr ein Weinglas voll mit Sherry. »Das wirst du brauchen, meine Haushälterin wird dir eine lange Liste mit Anweisungen geben, wie ich meinen Tagesablauf gern organisiert habe.« Er seufzte. »Ich bin aber nicht sicher, ob sie das wirklich weiß.«
Sophie nahm einen Schluck Sherry, der ihr, wie sie feststellte, schmeckte, und suchte dann nach Mrs. Brown, die ihr, wie vorausgesagt, einen Stundenplan und eine mehrseitige Liste mit Instruktionen gab.
Sophie überflog die Seiten und blickte dann auf. »Hier ist gar nicht von Bewegung die Rede. Kann mein Onkel das Haus verlassen? Ohne Hilfe laufen?«
Mrs. Brown nickte. »O ja, aber er liest lieber die Zeitung und hört Radio. Und er mag einfaches Essen. Nichts Aufwendiges. Gute Hausmannskost, so wie ich sie ihm immer zubereite. Ich weiß, was alte Leute gernhaben.«
Sophie hatte keine Ahnung, was alte Leute gernhatten, doch sie wusste, dass sie ein so eingeschränktes Leben nicht gern führen würde. Vielleicht brauchte Onkel Eric ein bisschen Abwechslung. Sie nahm versuchsweise noch einen Schluck Sherry.
Man zeigte ihr ein Schlafzimmer mit einem Bett, über dessen Federbett eine Paisley-Decke gebreitet war. Es gab ein Bücherregal voller alter Bücher von Autoren, von denen Sophie noch nie gehört hatte: Ethel M. Dell, Jeffery Farnol und Charles Morgan. Ein silbernes Schminktischset, zu dem ein Handspiegel, eine Bürste, eine Kleiderbürste und ein Kamm gehörten, lag vor einem dreiteiligen Spiegel, an dem ein kleines Papphütchen hing, das Sophie als Haarfänger erkannte – etwas, in das man die Haare stecken konnte, die man aus der Bürste entfernte. Es war hübsch und gefiel Sophie, die altmodische Dinge liebte, vielleicht weil sie selbst auch irgendwie altmodisch war. Als sie schlafen ging, kuschelte sie sich in das Bett, das nicht die bequemste Matratze hatte, und fing an, eines der Bücher zu lesen. Nach zwei Zeilen beschloss sie, doch lieber direkt zu schlafen.
Mrs. Brown kam am Morgen noch einmal vorbei, um sicherzugehen, dass Sophie auch wirklich wusste, was sie zu tun hatte.
Sie erklärte, offensichtlich schuldbewusst, weil sie den lange überfälligen Urlaub nahm: »Ich arbeite schon sehr lange für Mr. Kirkpatric, aber als meine Tochter mich bat, sie zu besuchen, wollte ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Meine Tochter meint, dass zwei Wochen eigentlich nicht lang genug wären, doch mir reicht es. Ich lasse Ihren Onkel nicht gern allein.«
»Wir kommen schon zurecht«, erklärte Sophie entschieden. »Genießen Sie Ihre Reise. Ich verspreche, dass ich mich um ihn kümmere und Sie ihn in perfektem Zustand zurückbekommen.«
»Er bekommt Porridge zum Frühstück.«
»Ich weiß. Das steht auf der Liste. Sie haben mich ganz hervorragend instruiert. Onkel Eric und ich schaffen das schon.«
Mrs. Brown war noch nicht überzeugt. »Die Nummer der Agentur steht unten auf der letzten Seite. Ich wollte eigentlich gern jemanden mit einer entsprechenden Ausbildung kommen lassen, doch Mr. Kirkpatric wollte die Agentur und das Gehalt nicht zahlen. Er ist sehr sparsam.«
Da ihre Familie ihn als einen gemeinen alten Geizkragen beschrieben hatte, überraschte Sophie das nicht. »Wir kommen sicher zurecht. Ich bin auch sparsam.« Es gelang ihr, Mrs. Brown hinauszukomplimentieren, und winkte ihr fröhlich von der Haustür aus nach.
Sie betete leise, dass nichts schiefging und Onkel Eric nicht stürzte und sich den Oberschenkelhals
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