Das Gluecksarmband
«Eisen schleift Eisen, und genauso schleift ein Mann den anderen zurecht», hatte Seamus immer gesagt, und da hatte ihr Vater recht gehabt.
Endlich knipste Molly das Licht aus. Sie betete um Schlaf, fand aber nur schwer zur Ruhe. Sie schob einen Arm unter den Kopf und schaute aus dem Fenster.
Die dünnen Vorhänge verbargen kaum, was sich im Nachbarhaus abspielte. Sie wusste, wer wann nach Hause kam, wer zu viel fernsah und wer Single war. Und vermutlich wussten die Bewohner da drüben genauso viel über sie.
Durch die Gardinen sah Molly verschwommen, wie ein Paar die Wohnung gegenüber betrat. Sie verfolgte, wie die beiden Licht machten, ihre Mäntel abstreiften und in den Kühlschrank schauten. Dann löschten sie die Lichter wieder und begaben sich ins Schlafzimmer, wo wahrscheinlich wunderbare Dinge stattfanden. Molly seufzte und drehte sich zur Wand. Sie wünschte, sie könnte ihr Gehirn ausschalten und einschlafen, statt immer wieder auf etwas Neues zu stoßen, das ihr Sorgen bereitete. Schließlich beobachtete sie die Schatten an der Wand und an der Decke. Eins nach dem anderen erloschen die Lichter im Hof, und als das Gebäude völlig dunkel war, gelang es ihr endlich einzuschlummern.
5
A m nächsten Morgen war Molly nervös und unruhig. Sie gab sich Mühe, Danny nicht merken zu lassen, welche Sorgen ihr das Gespräch am Vorabend bereitet hatte. Doch er schien gut gelaunt zu sein. Nachdem sie ihn zur Schule gebracht hatte, blieb sie eine Weile auf der anderen Straßenseite stehen und schaute den Kindern zu. Der Himmel war grau und verhangen, als könnte es noch mehr Schnee geben, und die Sonne hatte sich so gründlich hinter den Wolken versteckt, dass es Molly vorkam wie fünf Uhr nachmittags. Die Schüler mussten sich ordentlich aufstellen, bevor sie ins Gebäude geführt wurden. Eine Lehrerin pfiff auf einer Trillerpfeife, und schweigend setzten sich alle in Bewegung. Molly beobachtete, wie ihr Kind mit den anderen hineinschlurfte, den Rücken leicht gebeugt unter der Bücherlast, die für einen Viertklässler zu schwer erschien. Am liebsten wäre sie über die Straße gerannt, hätte Danny aus der Reihe herausgezogen und ihn für diesen Tag aus der Schule genommen. Sie wären in den Zoo gegangen, hätten die Pinguine beobachtet und am Imbisswagen Hot Dogs gegessen, was Molly ihrem Sohn sonst nie erlaubte.
Molly ballte die Fäuste. Immerhin war sie so vernünftig gewesen, heute ihre wollene schwarze Cabanjacke anzuziehen, sodass ihr nicht kalt war. Sie kuschelte das Kinn tief in ihren Schal und ging die Sixth Avenue wieder hinauf. Hot Dogs, dachte sie. Nachher gehe ich in den Supermarkt und kaufe Hot Dogs. Das würde sie beide aufheitern. Sommerliches Essen an einem bewölkten Wintertag. Vielleicht konnte sie ja im nächsten Sommer mit Danny zelten fahren. Bei diesem Gedanken fröstelte es Molly allerdings ein wenig – nein, drei Tage am Strand waren genug.
Da sie in der Großstadt geboren und aufgewachsen war, fand Molly, dass ihr bestimmte Erfahrungen fehlten, die für andere selbstverständlich gewesen waren. Sie hatte nicht einmal Autofahren gelernt – eigentlich war das richtig peinlich. Aber sie hatte sich nie ein Auto leisten können, und ihre Mutter konnte auch nicht fahren, daher hatte Molly sich nie bemüht, den Führerschein zu machen. Wenn sie mit Danny ans Meer wollte, nahmen sie von der Penn Station aus einen Zug, und in New York City selbst gab es ein gutes Nahverkehrsnetz und für besondere Fälle auch Taxis. Was es aber in der Stadt nicht gab, waren Parkplätze, oder jedenfalls erschien es ihr so. In Manhattan waren alle Straßen mit Autos vollgestellt, so dicht, dass es ihr ein Rätsel war, wie man sie überhaupt aus diesen Parklücken wieder hinausrangieren konnte. Und war das nicht die übliche Entschuldigung, wenn man in New York zu spät kam? «Sorry, keinen Parkplatz gefunden», oder «Sorry, hab im Stau gestanden».
Allerdings besaß Kate ein Auto, und wenn Molly wirklich mal einen Wagen brauchte, bat sie einfach ihre Freundin um Hilfe. Zum Beispiel, als sie auf einem Spaziergang mit Danny an der Tenth Street diesen tollen großen Sessel entdeckt hatte, der jetzt in ihrem Wohnzimmer stand. Er war so groß, dass sie ihn nicht hatte tragen können. Also hatte sie sofort zum Handy gegriffen, Kate angerufen und sie gebeten zu kommen. Danny war damals acht gewesen und hatte entsetzt gefragt: «Was, wir nehmen den Müll von anderen Leuten mit?»
Molly lachte. «Was der eine zu
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