Das Gluecksarmband
mal überlegen … mit fünfzehn bleibt man in dieser Stadt das erste Mal über Nacht weg. Das sind also nur noch fünf Jahre, bis das bei Danny losgeht – und du bist dann im reifen Alter von … was, vierzig?»
«Frank – jetzt reicht’s aber!», rief Molly lachend.
Doch seine Worte hatten etwas in Molly berührt. Danny wurde so schnell groß, und sie sah schon voraus, dass er sich von ihr lösen würde. Was würde sie tun, wenn es so weit war?
Molly schloss den letzten Karton, nahm Frank das Versprechen ab, die Winterkleidung morgen in der Mittagspause zu Father Mike zu bringen, und bedankte sich bei ihm. Er drückte ihr zum Abschied ein Küsschen auf die Wange.
Vorsichtig ging sie den schneeglatten Bürgersteig entlang zur Sixth Avenue. Sacred Heart gehörte zu den ältesten Kirchen in der Stadt, und es machte Molly immer große Freude, dort Spenden abzugeben. Es hatte etwas sehr Friedliches, eine staubige, leere Kirche zu betreten. Molly war eigentlich kein besonders religiöser Mensch. Damals in Queens war ihre Familie zwar zur Messe gegangen, aber ihr Vater hatte immer gesagt, für eine Kirche brauche man nur ein paar Leute, die zusammensaßen und gute Gespräche führten. Diese Definition gefiel Molly sehr.
Während sie die Stufen hinaufstieg, runzelte sie die Stirn. Kam Dannys religiöse Erziehung zu kurz? Sie konzentrierte sich so sehr darauf, über die Runden zu kommen, für ihn zu sorgen und ihm ein normales Leben zu ermöglichen, dass sie diesen Aspekt vielleicht übersehen hatte. Danny hatte ein paarmal nach seinem Großvater gefragt, und sie hatte geantwortet, Seamus sei im Himmel. Das hatte ihm anscheinend genügt.
Molly stieß die schwere Tür auf und ging mit klackernden Stiefeln durch den Mittelgang zum Altar. Sie selbst war sich gar nicht sicher, was den Himmel anging. Aber sie erinnerte sich noch, wie zornig sie gewesen war, als ihr Vater gestorben war – jedenfalls, bis ihr geliebtes Armband eintraf.
Neben dem Altar blieb sie stehen und schaute zum Büroraum hinüber. «Hallo, Father Mike?», rief sie versuchsweise.
«Molly? Hier hinten», ertönte eine muntere Stimme aus dem kleinen Raum.
Sie fragte sich oft, wie der Priester ihre Stimme erkennen konnte, obwohl er doch tagtäglich mit so vielen Menschen sprach. Andererseits – sie drehte sich zu den leeren Kirchenbänken um – war das vielleicht doch gar kein so großes Geheimnis. Allerdings engagierte Father Mike sich auch in der St. Patrick’s Cathedral, und Molly vermutete, dass er dort viel mehr zu tun hatte.
«Wie schön, Sie zu sehen. Was haben Sie denn heute für uns?» Der Priester erschien in der Tür und nahm ihr dankbar den Karton ab. Der kleine Mann hatte die Statur eines Boxers, mit ergrauendem Haar und wettergegerbtem Gesicht. Er hatte sein Leben allen gewidmet, die ihm über den Weg liefen und Hilfe brauchten. In seiner Gemeinde gab es viele verzweifelte, notleidende Menschen, die nicht unbedingt zur Messe kamen, aber jeden Mittwoch in der Suppenküche erschienen und sich auch Kleidung, Decken und andere Dinge abholten. Father Mike stellte den Karton auf den Schreibtisch in seinem winzigen Büro und begann, den Inhalt durchzusehen. Überall lagen Flyer herum. Treffen von alleinerziehenden Eltern, Versammlungen der Anonymen Alkoholiker, Trauerberatung, Eheberatung, Chor … die Liste war ewig lang. Ja, hier war dauernd etwas los.
«Ach, sehen Sie sich das mal an.» Father Mike zog eine übergroße lederne Handtasche aus dem Karton, eine ganz schlechte Gucci-Kopie. «Das Ding ist doch wie gemacht für Stella …» Er zwinkerte Molly zu, die zustimmend lächelte. Stella war eine «Frau» aus der Nachbarschaft – ein Transvestit, der an Depressionen litt und gelegentlich Hilfe brauchte. Molly hatte Stella zum ersten Mal richtig wahrgenommen, als eines Tages eine hochgewachsene Frau in abgetragenen Versace-Stiefeln am
Secret Wardrobe
vorbeimarschierte. Die Stiefel hatte Molly ein paar Tage zuvor in der Kirche abgegeben.
«Schön, Molly, sehr schön …» Der Priester schaute die übrigen Kleidungsstücke durch sowie die Taschen und Accessoires, die für die wenigen älteren Frauen in dieser winzigen Gemeinde nützlich sein konnten. «Schade, dass Sie nicht mehr Männerkleidung haben … so was fehlt uns. Anzüge. Kleidung, die Würde und Selbstvertrauen gibt.»
Molly schüttelte den Kopf. «Tut mir leid, solche Sachen bekommen wir auch selten. Aber Frank hat versprochen, morgen Mittag noch Winterkleidung
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