Das Glücksbüro
Pflanzen, persönlichen Dinge, ja, nicht einmal Farben gab, auch nicht auf den Rücken der Ordner. Alles wirkte sauber, aufgeräumt und irgendwie … grau.
Und doch war er unter allen Mitarbeitern des Amtes der Individuellste, ja, in gewisser Weise sogar der Modernste, obwohl er sich selbst gar nicht dafür hielt, genauso wenig wie die anderen ihn dafür hielten. Aber im absoluten Gleichklang der Büroeinrichtungen, die sich nur in Details wie Pflanzen, Kalender oder Postermotiven der jeweiligen Hobbies der Beamten unterschieden – die auf verstörende Weise alle irgendwie gleich waren, da alle dieselben Arten von Pflanzen, Kalendern und Hobbies hatten –, war sein Büro das Einzige, das anders aussah.
Außerdem konnte man mit einem gewissen Sinn für Ironie sagen, dass sich die Welt zwar weitergedreht und Albert zurückgelassen hatte, er allen anderen dennoch wieder voraus war, denn Retro war wieder in. Er hatte sie überholt, ohne sich überhaupt zu bewegen! Er hatte die Zeit überlistet, die Physik auf den Kopf gestellt, aber niemand hatte es bemerkt.
Auch deswegen war Alberts Büro magisch.
Er betrat es wie jeden Morgen um kurz nach halb acht, setzte sich an seinen Platz, schaltete den Computer an und legte die Hände auf die Schreibtischunterlage. Es klopfte. Albert liebte die Abläufe am Morgen, die Pünktlichkeit und Verlässlichkeit, mit der er die Tage begann. Die Bürohilfe trat ein, eine gut gefüllte Kladde mit allerlei Anträgen im Arm.
»Morgen, Herr Glück.«
»Guten Morgen, Susanne.«
Sie legte ihm die Kladde auf den Tisch.
»Wiedersehen, Herr Glück.«
»Auf Wiedersehen, Susanne.«
Damit schloss sie die Tür des Büros hinter sich und Alberts Tagwerk konnte beginnen. Das war ein guter Morgen, denn er war wie jeder Morgen.
Gleich der erste Antrag war ein alter Bekannter, abgeschickt von einem Herrn Chicone und wie immer voller Formfehler. Die abenteuerliche Rechtschreibung störte Albert nicht, allenfalls war es ein ästhetischer Mangel auf einem ansonsten makellos schönen Formblatt. Es war bereits der vierte Antrag in den letzten Monaten, und immer wenn Herr Chicone endlich einen falschen Eintrag vermied, baute er dafür gleich einen neuen ein.
So war der Antrag leider nicht zu bearbeiten.
Er öffnete die Schublade, zückte einen großen Stempel und ein Kissen und drückte an die exakt dafür vorgeschriebene Stelle ein großes ABGELEHNT auf den Antrag. Dann legte er das Papier in den Ablagekasten für Ausgänge. Und ohne es zu ahnen, hatte Albert mit genau dieser Ablehnung eine Tür aufgestoßen, die ihn bald schon in ein neues Leben führen würde.
4.
Die Stunden flogen nur so vorbei, denn es gab für Albert nichts Schöneres als das konzentrierte Bearbeiten der wunderbaren Anträge, die Stück für Stück von der Kladde in die Ablagekästen wanderten. Nach all den Jahren bewunderte er immer noch die aparte Schönheit des Druckbildes, die Kompliziertheit der Syntax bei einer gleichzeitigen Genauigkeit, die ihresgleichen suchte. Die Namensfelder, für gewöhnlich das Einzige, was die Antragsteller ohne Hilfe verstanden, hatten genau die richtige Größe im Vergleich zur Größe des Blattes. Die winzig kleinen Kästchen zum Ankreuzen waren vorbildlich, die feinen Absätze, die Felder, die nur von der Verwaltung ausgefüllt werden durften, der optisch ansprechende Block der Rechtsbehelfsbelehrung mit den akribisch aufgelisteten Paragrafen und die geniale Idee, Anträge oder Briefe oder Bescheide maschinell gültig zu machen, ohne dass eine persönliche Unterschrift nötig war, machten das Blatt zu einem Kunstwerk.
Und wie immer ärgerte sich Albert maßlos darüber, wenn damit nicht sorgsam umgegangen wurde: Würde jemand die Gutenbergbibel so behandeln? Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung oder Columbus’ Brief von der Entdeckung der Neuen Welt? Würde die jemand zerknittern oder Eselsohren reinfalten? Was nützten denn Glaube, Freiheit und die Erschließung neuer Welten, wenn sie nicht geregelt wurden? Die Verwaltung war der Motor einer jeden gesellschaftlichen Ordnung und Anträge das Schmieröl, das ihn am Laufen hielt. Ohne Anträge keine Ordnung, ohne Ordnung keine Gerechtigkeit, ohne Gerechtigkeit keine Hoffnung, ohne Hoffnung kein Glaube, ohne Glaube keine Welt. Wenn man diesem Umstand bereits keinen Respekt entgegenbrachte, musste man das auch noch demonstrieren, indem man seine Kaffeetasse drauf abstellte?
Für Albert waren diese Anträge wie Partituren, deren
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