Das Gluehende Grab
ich nur mit dir machen, Tinna? Die Worte
ihre Mutter echoten in ihrem Kopf. Vielleicht hatte Mama
beschlossen, sie hier zurückzulassen, und den Leuten im
Krankenhaus gesagt, sie sollten das Mädchen einfach sich
selbst überlassen. Tinnas Atem ging unregelmäßig,
und ihr war schlecht. Die Tür öffnete sich, und eine Frau
in einem weißen Kittel, wie Tinna sie inzwischen gut kannte,
erschien. Was, wenn sie Ausländerin war? Was, wenn sie
gehörlos war?
»Geht’s
dir nicht gut?«, fragte die Frau auf Isländisch und trat
an den Bettrand. Tinna wurde etwas ruhiger.
»Ich
muss mit meiner Mutter sprechen«, entgegnete sie. Ihre Stimme
klang weinerlich, obwohl sie das nicht wollte.
»Sofort.«
»Deine
Mutter kommt heute Abend«, sagte die Frau und beugte sich zu
Tinna hinunter. Sie hob ein Augenlid an und starrte in Tinnas Auge.
»Wie geht es dir?« Wir wissen, was das Beste für
dich ist.
»Ich
will mit meiner Mutter sprechen. Ich muss ihr von dem Mann
erzählen. Keiner weiß von ihm, außer
mir.«
»Ja,
ja«, sagte die Frau. »Ist ja gut.« Die Arme. Wir
wissen, was das Beste ist. »Ich glaube, es ist an der Zeit,
deine Medikamente zu nehmen, Schatz. Dann geht es dir bestimmt
besser.«
Die Frau
drehte sich auf dem Absatz um und ging aus dem Zimmer. »Ich
muss mit Mama reden! Ich weiß seinen Namen und alles!«
Die Frau drehte sich noch nicht einmal um. Sie kam sofort wieder
zurück, schob vier weiße Tabletten in Tinnas Mund, hob
ihren Kopf an und führte das Wasserglas an ihre Lippen. Dann
kippte sie die kalte Flüssigkeit über Tinnas Lippen und
hielt ihr Kinn eine Weile hoch, bis sie sich sicher war, dass das
Mädchen alles geschluckt hatte. Tinna hustete schwach, da ein
paar Tropfen in die falsche Röhre geraten waren. »Man
kann rauskriegen, wie er mit Nachnamen heißt. Da ist ein
Zettel weggeflogen.«
»Schlaf
jetzt ein bisschen«, sagte die Frau lächelnd, »und
wenn du wieder aufwachst, ist deine Mama
da.«
Später
kam ihre Mutter, aber Tinna stand noch unter dem Einfluss der
Medikamente und schlummerte den ganzen Besuch über. Immer,
wenn sie die Augen öffnete, erblickte sie dieselbe Szene
– ihre weinende Mutter. »Ich kann rausfinden, wie er
heißt, Mama«, sagte sie. Ihre Stimme war genauso belegt
wie ihre Zunge. »Sein Vorname ist Hjalti. Ich konnte den
Nachnamen nicht lesen, er war so schlecht geschrieben.« Ihre
Mutter strich ihr mit der Hand über die Stirn und weinte
weiter. »Der böse Mann. Er heißt Hjalti,
Mama.«
Ihre Mutter
wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Pst, Tinna.
Schlaf. Schlaf einfach.«
Tinna gab auf
und schloss die Augen. Wir wissen, was das Beste für dich
ist.
36
DIENSTAG
24. JULI 2007
Dóra
wusste nicht mehr, wann sie – im nüchternen Zustand
– zuletzt so viel geredet hatte. Ihr Mund war trocken, aber
sie war zufrieden mit ihren Ausführungen, denn sie schienen
die beabsichtigte Wirkung zu haben. Stefán und der
Staatsanwalt hatten dieselben Schlüsse gezogen wie sie –
nämlich, dass Markús unschuldig war. Sie saßen zu
dritt in Stefáns Büro, wohin Dóra direkt nach
ihrem Gespräch mit Aldas Mutter geeilt war. Auf der Wache
konnte man es kaum erwarten, Aldas Mutter zu holen, aber das
formelle Verhör war bis nach der Sarglegung verschoben worden.
Stefán hatte nur kurz mit der Frau gesprochen und sich
Dóras Geschichte bestätigen lassen. Ein Polizeibeamter
in Zivil würde sie für den Rest des Tages begleiten
– für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie das Weite
suchte. Dóra hatte gesehen, wie sie auf die Wache
geführt worden war – gebeugt und mit versteinertem
Gesicht.
Es
war unmöglich, sich in sie hineinzuversetzen. Wie fühlte
sich eine Frau, die sich einen so schrecklichen Fehler eingestehen
musste? Dóra konnte sich beim besten Willen nicht
vorstellen, wie man seine Tochter einfach in die Westfjorde
schicken konnte, um ein Kind für eine fremde Frau auszutragen
– ein Kind, das zu allem Überfluss auch noch auf so
schreckliche Art und Weise zustande gekommen war. Aldas Mutter
hatte die Geschichte völlig abgeklärt geschildert. Aber
Dóra wusste, dass sie nicht gefühllos {334 }war.
Valgerður und Daði hatten verlangt, dass Alda das Kind
unter Valgerðurs Namen zur Welt bringen sollte, da sie keine
Möglichkeit hatten, es auf normalem Weg zu adoptieren. Das
hatten sie früher schon versucht, aber eine Adoption war
aufgrund ihrer häuslichen Verhältnisse nicht
befürwortet worden. Damals kam es auch noch
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