Das Gluehende Grab
erzählen
wollte?« Verwirrt starrte sie Dóra
an.
»Ich
weiß es nicht«, sagte Dóra ehrlich. »Ich
weiß nur, dass Alda eine Zeitlang verschwunden war. Angeblich
war sie zum Zeitpunkt einer möglichen Schwangerschaft auf dem
Gymnasium in Ísafjörður. Aber dort hat noch nie
jemand von ihr gehört. Deshalb überlege ich, ob der Mann
recht haben kann.«
Die alte Frau
senkte ihren Blick. Dóra erwartete einen weiteren
Wutausbruch, aber stattdessen begannen ihre Schultern zu zucken,
erst leicht, dann immer heftiger. Jóhanna ging zu ihrer
Mutter, setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm.
Allmählich hörten die schmalen Schultern der Frau auf zu
beben. »Oh Gott«, schluchzte sie. »Ich hab so
viel falsch gemacht in meinem Leben. So viel falsch. Ich sollte in
dem Sarg da liegen. Nicht Alda.« Die Frau hielt immer noch
den Blick gesenkt.
»Jeder
macht Fehler«, sagte Dóra automatisch. »Wichtig
ist, wie man damit umgeht.«
Die alte Frau
schüttelte den Kopf. Dann blickte sie resigniert zu dem
weißen Sarg, der auf einem kleinen Podest mitten im Raum
stand. »Und genau darin haben alle versagt. Alle.« Sie
verstummte. Dóra wollte der Frau die Zeit geben, die sie
brauchte, denn sie fürchtete, dass sie sich sonst wieder
verschließen würde. »Damals war alles anders.
Alles, was für euch junge Leute heute selbstverständlich
ist, gab es damals noch nicht. Man musste für alles
kämpfen.«
»Hatte
Alda wirklich ein Kind?«, fragte Jóhanna aufgebracht.
»Worum geht es hier eigentlich?« Dóra warf ihr
einen scharfen Blick zu, um sie zum Schweigen zu bringen.
Vergeblich. »Mit wem?«
Dicke
Tränen liefen der alten Frau über die Wangen, tropften in
das dunkelblaue Tuch, das sie um den Hals trug, und bildeten dort
schwarze Flecken, die immer größer wurden. »Sie
ist vergewaltigt worden. Von einem Ausländer.« Die Frau
sprach zu Jóhanna gewandt. Es war, als hätte sie
Dóra ganz vergessen. »Sie wurde mit schlimmen
Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Sie haben uns angerufen.
Ich hab noch nie so was Schreckliches
gesehen.«
Dóra
wollte keine weiteren Beschreibungen von Aldas Zustand nach der
Vergewaltigung hören. Sanft fragte sie: »Ist sie
schwanger geworden?«
Die Frau
schaute Dóra irritiert an und nickte dann. »Ja. Das
Schicksal spielt den anständigsten Menschen oft am
härtesten mit. Sie war noch ein Kind, hatte höchstens mal
einen Jungen geküsst, mehr nicht. Sie war so lieb und brav,
hat nie Schwierigkeiten gemacht wie viele andere in ihrem Alter.
Ein einziges Mal verhält sie sich anders als sonst, und schon
bricht die Welt zusammen. Ein einziges
Mal.«
Jóhanna
saß stumm neben ihrer Mutter. Dóra musste das
Gespräch am Laufen halten. Sie holte tief Luft. »Sie hat
an dem Abend Alkohol getrunken, nicht wahr? So wie ihre
Klassenkameraden.«
Die alte Frau
nickte. »Sie war nicht so schlimm wie die anderen. Wenn sie
betrunkener gewesen wäre, hätte man uns angerufen und
gebeten, sie abzuholen. Aber sie haben sie alleine nach Hause gehen
lassen.« Die Frau starrte auf den Fußboden. »Sie
wusste, dass wir davon erfahren würden und wollte einen klaren
Kopf bekommen. Deshalb ist sie runter zum Hafen, hat geglaubt, die
Meeresluft würde ihr guttun. Da ist sie dann diesem
abscheulichen Mann begegnet. Er war betrunken und hat sie mit
Gewalt genommen. Sie konnte sich nicht gegen ihn wehren, obwohl sie
es mit aller Kraft versucht hat. Was für eine Qual –
mein armes Kind.«
»Ist der
Übeltäter einer der Männer aus dem Keller? Ich habe
{326 }selbst eine Tochter und kann mir gut vorstellen, was einem
durch den Kopf geht, wenn so etwas geschieht. Das Schlimme ist,
dass wir es nicht rückgängig machen können. Aber
Markús hat auch einen Sohn, der es nicht verdient hat, dass
sein Vater unschuldig im Gefängnis sitzt. Auch seinetwegen
muss die Wahrheit ans Licht kommen.«
Die Frau
schaute nicht auf, aber etwas schien sie berührt zu haben,
denn ihre Stimme klang jetzt viel entschlossener: »Als Alda
meinem Mann im Krankenhaus erzählt hat, wer es war, ist er
Hals über Kopf rausgerannt.« Sie sprach so, als
würde sie einen Text vorlesen. »Ich habe versucht, ihn
davon abzubringen, aber er hat nicht auf mich gehört. Er hat
mich am Krankenbett sitzenlassen und Magnús geholt. Einer
für alle, alle für einen. Sie haben die Männer unten
am Hafen erwischt, wo sie mit ihrem Segelboot lagen. Die
Männer waren völlig betrunken, es waren vier, aber zwei
von ihnen haben geschlafen. þorgeir
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