Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
leicht im Wind flatterte.
Stirnrunzelnd drehte ich mich auf dem Fahrersitz um, um einen besseren Blick auf ihn werfen zu können.
Er war verschwunden. Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Als ich mich wieder umwandte, zuckte ich zusammen und rieb mir den schmerzenden Kopf. Das jedenfalls war keine Einbildung.
„Nichts“, sagte ich zittrig. „Ich sitz wohl schon zu lange hinterm Steuer, das ist alles. Tut mir leid.“
Vorsichtig fuhr ich wieder an, warf einen letzten Blick in den Rückspiegel und sah nur die Hecke und eine leere Straße. Mit links griff ich fest ans Lenkrad und suchte mit der anderen Hand erneut die meiner Mutter, während ich mich vergeblich bemühte, den Anblick des Jungen zu vergessen, der sich in mein Gehirn eingebrannt hatte.
In meinem Schlafzimmer tropfte es von der Decke. Zwar hatte der Makler, der uns das Haus unbesehen verkauft hatte, tausend Eide geschworen, dass alles in Ordnung sei, aber ganz offensichtlich hatte der Mistkerl gelogen.
Nach unserer Ankunft packte ich nur aus, was wir für die Nacht brauchen würden – einschließlich eines Topfs, um das Wasser, das unaufhörlich von der Decke tropfte, aufzufangen. Wir hatten nicht viel mitgebracht, nur was irgendwie ins Auto gepasst hatte. Und ich hatte schon im Voraus eine Garnitur Secondhandmöbel ins Haus liefern lassen.
Selbst wenn meine Mutter nicht im Sterben gelegen hätte – ich war sicher, dass ich hier todunglücklich sein würde. Die nächsten Nachbarn wohnten eine Meile von uns entfernt, alles roch nach Natur und in der Kleinstadt Eden gab es nicht mal einen Pizzaservice.
Nein, es Kleinstadt zu nennen war noch milde ausgedrückt. Eden war noch nicht mal auf der Landkarte verzeichnet. DieHauptstraße war keine halbe Meile lang, und jedes Geschäft schien entweder Antiquitäten oder Lebensmittel zu verkaufen. Kein einziger Klamottenladen – jedenfalls keiner, der jemals Sachen verkaufen würde, die man auch tragen konnte. Es gab nicht mal McDonald’s, Pizza Hut oder Taco Bell – nichts. Nur ein angestaubtes Imbissrestaurant und einen Tante-Emma-Laden, in dem die Bonbons noch aus dem Glas verkauft wurden.
„Gefällt’s dir?“
Mom saß im Schaukelstuhl neben ihrem Bett, den Kopf auf ihr Lieblingskissen gebettet. Das gute Stück war schon so mitgenommen, dass ich nicht einmal mehr wusste, welche Farbe es ursprünglich gehabt hatte. Aber der Stuhl hatte vier Jahre voller Krankenhausaufenthalte und Chemotherapien überstanden. Entgegen jeder Prognose – genau wie Mom.
„Das Haus? Klar“, log ich, während ich ein Laken auf ihre Matratze zog. „Es ist … niedlich.“
Sie lächelte, und ich spürte ihren Blick auf mir ruhen. „Du gewöhnst dich schon noch dran. Vielleicht gefällt es dir später sogar so gut, dass du bleibst, wenn ich nicht mehr da bin.“
Ich presste die Lippen aufeinander und weigerte mich, darauf einzugehen. Es war eine unausgesprochene Regel, dass wir nie darüber sprachen, was passieren würde, nachdem sie gestorben war.
„Kate“, sagte sie sanft, und der Schaukelstuhl knarzte, als sie aufstand. Sofort blickte ich auf, bereit, augenblicklich zu reagieren, falls sie fiel. „Irgendwann müssen wir darüber reden.“
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich sie weiter, während ich das Laken glatt strich und einen dicken Quilt über das Bett breitete. Anschließend griff ich nach den Kissen.
„Nicht jetzt.“ Ich schlug die Decke auf und trat einen Schritt zur Seite, damit sie ins Bett krabbeln konnte. Ihre Bewegungen waren langsam und qualvoll, und ich wandte den Blick ab. Ich wollte nicht sehen, wie sie litt. „Noch nicht.“
Als sie bequem lag, sah sie zu mir auf, die Augen gerötet und müde. „Bald“, sagte sie leise. „Bitte.“
Ich schluckte, antwortete jedoch nicht. Ein Leben ohne sie warfür mich unvorstellbar. Und je weniger ich versuchte, daran zu denken, desto besser.
„Morgen früh kommt die Tagesschwester.“ Behutsam küsste ich sie auf die Stirn. „Ich sorge dafür, dass sie alles hat und Bescheid weiß, bevor ich zur Schule fahre.“
„Warum bleibst du heute Nacht nicht hier?“, fragte sie und klopfte auf den leeren Platz neben sich. „Leiste mir Gesellschaft.“
Ich zögerte. „Du brauchst deinen Schlaf.“
Liebevoll strich sie mir mit den kalten Fingerspitzen über die Wange. „Wenn du neben mir liegst, schlafe ich besser.“
Die Versuchung, mich an sie zu kuscheln wie früher, war zu groß. Vor allem jetzt, da ich mich jedes Mal, wenn ich
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