Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
Armen zu wiegen? Sie hätte ihr Kind gewiss nicht so behandelt. Eine gute Mutter wäre sie geworden, oh ja.
Wenn der Schmerz in ihrem Inneren zu stark wurde, verließ sie fluchtartig das Armenhaus, um vor der Tür frische Luft zu schnappen. Dem Aufseher gefiel das nicht, er hatte sie schon öfter wieder hereingeschickt. Er sagte, die reichen Kaufleute sollten das Elend der Stadt nicht zu sehen bekommen. Mirke schnaubte bei dem Gedanken. Wir sind denen nicht fein genug, da ist es besser, im Haus gehalten zu werden, dachte sie.
Die Tage zogen sich endlos hin. Einzig mit dem blonden Mädchen, das sie am ersten Tag angesprochen hatte, ließ sie sich auf Gespräche ein. Judith schien zumindest einen Funken Verstand zu besitzen und hielt sich einigermaßen sauber.
Eine Woche, nachdem Mirke in das Armenhaus gekommen war, legte Judith beim Frühmahl den Holzlöffel neben die Schale mit Brei und sah ihr offen ins Gesicht.
»Jetzt weiß ich, woher ich dich kenne.«
Mirke hielt den Atem an.
»Bist mir gleich irgendwie bekannt vorgekommen«, fuhr das Mädchen unbekümmert fort. »Du bist doch die, die sie an den Kaak gestellt haben. Ich bin damals dabei gewesen. Da standen ganz schön viele Leute rum und habengegafft. Einem hab ich den Geldbeutel vom Gürtel geschnitten.« Sie wurde wieder ernst. »Die haben dich ausgepeitscht, weil du mit diesem Bremer gebuhlt …«
Mirke sprang ruckartig auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Halt die Klappe!«
Das Mädchen zuckte zusammen wie unter einer Maulschelle.
»Was regst du dich denn so auf?«, murmelte sie. »Hier kümmertes keinen Menschen, was du gemacht hast!«
Mirke beugte sich vor. »Du sollst still sein, verdammt!«
»Hört, hört.«
Sie fuhr herum. Die alte Jüdin stand hinter ihr und musterte sie aus zusammengekniffenen Augen.
» Du warst also das kleine Luder, das mit Cristin Bremers Schwager gehurt hat?«
Mirke schluckte. Cristin Bremer. Der verhasste Name, da war er wieder. »Lass mich in Ruhe«, presste sie hervor.
Die Alte sank auf einen Hocker. Sie raffte ihr fadenscheiniges Kleid und schob eine Hand zwischen die mageren Schenkel. »Totkratzen könnte man sich. Fürchte, ich hab mir irgendwo die Krätze geholt! Wenn ich auch nicht wüsste, bei wem ich mir die eingehandelt haben soll.« Ihre Hände wanderten höher, fuhren unter die schlaffen Brüste. »Bei der heiligen Maria Magdalena, die Juckerei macht mich wahnsinnig!«
Mirke wich zwei Schritte zurück. Die Hure zog eine Hand hervor, zeigte auf sie und warf ihr einen giftigen Blick zu.
»Vielleicht hast du sie ja mitgebracht.«
Voller Empörung setzte Mirke zu einer Antwort an, doch Judith sprang auf und trat zwischen sie und die Alte.
»Red doch keinen Unsinn, Hanna«, rief sie aus, während nun weitere Frauen in den Speisesaal traten. »Bei dem Dreck, in dem wir hier hausen müssen, ist es doch kein Wunder, wenn wir krank werden. Vielleicht hast du ja auch bloß Flöhe oder so was.« Sie trank ihren Becher mit lauwarmem Bier aus und wischte sich über die Lippen. »Ich geh mal zu Falk, er soll dir eine Salbe besorgen oder ein Kräuterweib holen! Und jetzthör auf, dich zu kratzen, verdammt. Davon wird’s auch nicht besser.«
21
Venedig
E nrico de Gaspanioso zog eine hölzerne Leiter zu sich heran, die an den Regalen lehnte, und stieg hinauf, um ein großes, verschnürtes Paket auszuwählen.
»Bitte kommt mit mir, Signora Schimpf«, schlug er vor, nachdem er wieder heruntergestiegen war.
Während Cristin dem Tuchhändler folgte, bemerkte sie, wie behutsam er das Paket auf dem Arm trug. Im Zahlraum angekommen, legte er es auf einem ausladenden Schreibtisch ab und löste vorsichtig die Verschnürungen.
»Wenn Ihr es Euch ansehen wollt, Signora«, er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Dies hier ist die feinste Seide, die Ihr jemals gesehen habt.« Mit diesen Worten zog er die schützende Lederhülle beiseite.
Cristins Augen weiteten sich unwillkürlich, als sie den reinweißen, matt schimmernden Stoff vor sich auf dem Tisch liegen sah.
»Mein Gott!«
»Der Herr hat zwar alles Leben geschaffen, meine Liebe, aber dieses Kunstwerk haben wir byzantinischen Seidenwebern zu verdanken. Der Allmächtige jedoch schuf die Seidenraupen.«
Ihr Herz schlug schneller, als sie mit Blicken den edlen Stoff streichelte. Cristin konnte nicht anders, musste ihn berühren. Nur ein Mal, dachte sie, nur ein Mal etwas derart Feines zwischen den Fingern spüren. »Byzantinische Seide also«,
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