Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
Bader kratzte sich am Kinn. »Der Junge meinte nur, er wisse nicht, wann die Schimpfs wiederkommen. Daraufhin hat der Mann nur etwas gemurmelt wie: ›Dann ist es also wahr‹, und ist gegangen.«
»Das ist eigenartig, aber ich denke, wenn der Fremde etwas Wichtiges zu sagen hat, kommt er wieder.«
»Ganz richtig, meine Liebe. Was haltet Ihr von einer Runde Würfeln, bevor Elisabeth ins Bett geht?«
20
Lübeck
N un kommt schon rein, Mädchen, wir beißen nicht!«
Der große, kahlköpfige Mann, der soeben die Tür des Armenhauses geöffnet hatte, bleckte die Zähne und machte eine Kopfbewegung zur Seite. Mirke folgte seiner Aufforderung und trat in den schmalen Flur. Der Gestank nach Schweiß und altem Fisch, der ihr entgegenschlug, nahm ihr einen Moment lang schier den Atem. Sie sah sich um. Eine Holztreppe führte nach oben, links und rechts davon gingen Türen ab.
So also sah es im Armenhaus aus. Natürlich war sie früher schon mal an dem zweistöckigen, lehmverputzten Gebäude vorübergegangen, hatte aber noch nie einen Fuß hineingesetzt. Im Gegenteil, sie hatte ihre Schritte beschleunigt, bevor eine der bedauernswürdigen Gestalten, die aus den Fenstern heraussahen, sie noch ansprach. Seufzend blickte sie zur Treppe hinauf. Im schwachen Licht tanzten Staubkörner in der stickigen Luft. Doch ihre Situation hatte sich geändert, und sie konnte es sich nicht leisten, zimperlich zu sein. Der Pfaffe, den sie nach der heutigen Morgenmesse vor der Jakobikirche um ein Almosen bat, hatte ihr geraten, nach St. Johanni zu gehen, dort werde man ihr sicher helfen.
»Ich bin Ewalt Falk, der Aufseher«, erklärte der Mann, und seine Augen verweilten einen Moment auf ihrem vollen Busen. »Bist du eine Hübschlerin?«
Warum glaubte nur jeder Kerl, der ihre Brüste sah, sie würde es für Geld tun? Mirke unterdrückte einen unfreundlichen Kommentar, der Mann konnte ja nicht ahnen, dass er mit seiner Bemerkung einen wunden Punkt getroffen hatte.
»Hab meine Arbeit verloren«, log sie.
»Du hast Glück, wir haben gerade ein bisschen Platz. Drei Weiber sind gestorben, letzte Woche.« Er wies auf die Treppe. »Komm mit nach oben, ich zeig dir den Schlafraum.«
Sie stieg hinter dem kräftigen Mann die Stufen empor. Oben öffnete er eine Tür. Mindestens zwei Dutzend Frauen lagen auf den schmalen Betten, und ebenso viele Kinder hockten auf dem schmutzigen Lehmboden, der mit allerlei Unrat übersät war. Fischgräten und -köpfe lagen ebenso achtlos herum wie Hühnerknochen und zahllose Schalen von Austern. Die Nahrung der Armen. Eine Wolke aus den Gerüchen menschlicher Ausscheidungen schien über dem Raum zu schweben. Während einige der Frauen sie mit unverhohlener Neugierde musterten, andere dagegen stumpfsinnig ins Nichts starrten, unterdrückte Mirke ein Würgen. Nicht einmal auf dem Abtritt stank es so entsetzlich wie hier.
Ein junges Ding erhob sich von ihrer Bettstatt und trat auf sie zu. Das flachsblonde Mädchen mit der frechen Stupsnase mochte vielleicht dreizehn Lenze zählen. »Ich bin Judith«, sagte sie. »Kannst bei mir schlafen, ich hab noch Platz.«
In den folgenden Tagen lernte Mirke die anderen Bewohnerinnen des Lübecker Armenhauses zwar etwas besser kennen, konnte jedochnicht behaupten, dass ihr die Frauen besonders sympathisch waren. Vor allem von Hanna, einer jüdischenMetze, versuchte sie sich fernzuhalten.
Außer einer Hand voll Huren,teils im fortgeschrittenen Alter, beherbergte das Armenhaus von St. Johanni etliche junge Mütter mit ihren Kindern. Einige hatten zwar Männer, doch diese arbeiteten im fernen Dänemark oder im Süden des Landes, wie sie den Gesprächen der Frauen entnahm. Die meisten allerdings waren von den Kindsvätern sitzen gelassen worden. Das Leid und die Einsamkeit dieser Frauen standen ihnen ins Gesicht geschrieben. An manchen Tagen herrschte eine Grabesstille in dem überfüllten Saal, die nur von dem gelegentlichen jämmerlichen Geschrei der Säuglinge und dem Knistern und Knacken des Kamins unterbrochen wurde.
Falk mochte einen großen Anteil an der Ruhe haben, denn der Aufseher duldete keine Prügeleien oder lautstarke Auseinandersetzungen und teilte auch schon einmal Schläge mit dem Knüppel aus, wenn die Frauen aufeinander losgingen. Mirke verspürte allerdings auch kein Bedürfnis, sich mit den apathisch wirkenden Weibern zu befassen. Und der Kinderlärm dröhnte ihr allzu laut in den Ohren. Warum ließen die Frauen ihre Säuglingeschreien, statt sie in den
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