Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
Momente lang hielten sie einander fest. Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet, dachte Cristin und seufzte. Und nun, da alles vorbei ist, empfinde ich nichts, nicht einmal Befriedigung. Als sie zu ihrem Mann aufblickte, waren seine Züge weicher geworden.
»Ich muss nach Mechthild sehen, Baldo.« Sanft löste sie sich von ihm. »Und nach den Kindern.«
Mechthilds Ältester nahm die Nachricht vom Tode seines Vaters gefasst auf. Mit seinen beinahe fünfzehn Lenzen war Dietrich alt genug, um die ganze Wahrheit zu erfahren. Tapfer schluckte der Junge seinen Kummer hinunter.
Zwar hätte seine Mutter es gern gesehen, wenn er den Pelzhandel seines Vaters übernommen hätte, doch war er dafür noch ein wenig zu jung, außerdem fehlten ihm das kaufmännische Geschick und die Redekunst des Vaters. Da er aber ein helles Köpfchen besaß und schon als kleiner Junge gern in der Spinnerei seines Onkels zugesehen hatte, schickte sie ihn wenige Tage nach Lynhards Tod zu einem Gewandschneider in die Lehre.
Am Abend vor ihrer Rückreise nach Hamburg, die beiden jüngsten Kinder Mechthilds schliefen schon friedlich in ihren Betten, saßen die drei in der Dornse noch bei einem Becher Würzwein zusammen.
»Ein Händler aus Nowgorod möchte den Pelzhandel kaufen. Er hat mir eine anständige Summe dafür geboten«, eröffnete Mechthild das Gespräch.
»Du willst verkaufen?« Baldo beugte sich vor. »Davon hast du noch gar nichts erzählt.«
Cristin sah ihre Schwägerin forschend an. Mechthild ordnete ihr Haar, das sich aus dem Zopf zu lösen begann. Ihre Augen trugen die Spuren durchwachter Nächte.
»Der Handel hat mir nie Freude bereitet. Außerdem müsste ich ein paar Männer zusätzlich einstellen, die all die Dinge für mich erledigen, denen ich mich nicht gewachsen fühle.« Sie schenkte Cristin nach, die ihr den Becher entgegenhielt. »Ich möchte etwas Lohnenswertes tun, wisst ihr?«
Cristin nickte. »Was hast du vor?«
»Ich möchte ein Armenhaus eröffnen, ein Heim für geschundene junge Frauen und deren Kinder.«
Baldo und Cristin wechselten einen raschen Blick.
»Unser ehemaliges Lagerhaus ist groß genug, um ein Dutzend Frauen beherbergen zu können«, fuhr Mechthild fort.Ein zartes Lächeln ließ ihr Gesicht rosig erscheinen.
»Hast du dir das gut überlegt? All das Leid, das dich umgeben wird … wirst du das alles ertragen können?«, fragte Cristin vorsichtig.
»Es ist mir ein Bedürfnis, meine Liebe.«
Mechthild erhob sich, um ein neues Holzscheit ins Feuer zu legen. Als sie sich wieder niedersetzte, lag ihr Gesicht im Dunkeln, doch Cristin nahm das Zittern in ihrer Stimme deutlich wahr.
»Lynhard hat den armen Mädchen aus der Fremde viel Unheil angetan. Vielleicht wird der Schaden, der ihren Seelen zugefügt wurde, nie ganz verheilen.« Sie brach ab, nahm einen Schluck aus ihrem Becher. »Vor dem Allmächtigen möchte ich einen Teil der Schuld wiedergutmachen, die mein Mann auf sich geladen hat.«
Ihre Worte versetzten Cristin einen Stich. Wie gut sie Mechthild verstehen konnte! Aber die Schwägerin, selbst zart und geschwächt von den Ereignissen, mutete sich Großes zu. Wie wollte sie all die Arbeit bewältigen, zumal sie selbst zwei kleine Kinder hatte, die ihre Mutter gerade in diesen schweren Zeiten dringend brauchten?
»Ich werde mir eine Köchin und ein Hausmädchen nehmen«, beantwortete sie Cristins unausgesprochene Frage. »Bei mir sollen die Mädchen alles lernen, was eine anständige Frau wissen muss. Ich … ich kenne eine ganze Reihe von Kaufleuten und Bürgern, die mit Lynhard Geschäfte gemacht haben. Meinen Einfluss werde ich nutzen, um den jungen Mädchen ein besseres Leben zu ermöglichen.« Mechthild seufzte. »Bleibt nur zu hoffen, dass mein Mann, dieser Verbrecher, meinen Ruf nicht vollends zerstört hat.«
Betretene Stille trat ein.
»Ich bin sicher, die Menschen werden sich an dich als eine Frau erinnern, die immer redlich war«, warf Baldo sanft ein.
Doch Cristin zweifelte heimlich an seinen Worten. Hatte sie nicht selbst am eigenen Leib erfahren, wie rasch die Leute einen Menschen verurteilten, mit dem sie am Tage zuvor noch gelacht und Geschäfte gemacht hatten? Allerdings lag der Fall hier ganz anders. Mechthild war keine Verurteilte, sondern das Opfer ihres Gatten. Cristin betrachtete ihre Schwägerin eingehender. Nie hätte sie vermutet, Mechthild einmal so entschlossen zu sehen. Nur wenige Jahre zuvor war sie eine geradezu ergebene Ehefrau gewesen, die nie
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