Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
Lippen, die sie einst so gern geküsst hatte, waren damals im Gerichtssaal, als man sie vorgeführt hatte, nichts als Beschimpfungen gekommen. Wie oft in den vergangenen Monaten hatte sie von seinen abfälligen Worten geträumt. Sie sah ihm nach und spürte eine brodelnde Hitze in sich aufsteigen.Er sollte endlich für das bezahlen, was er ihr angetan hatte. Und sie würde dabei sein, wenn sein letztes Stündlein schlug. Immer mehr Leute strömten nun aus dem weit geöffneten Portal des Rathauses. Zwei gut gekleidete Männer gingen an ihr vorüber.
»Habt Ihr es mitbekommen?«, hörte sie den einen sagen. »Cristin Bremer hat wieder geheiratet.«
»So? Wer ist denn der Glückliche?«, wollte der andere wissen.
»Ihr werdet es nicht glauben: Baldo Schimpf.«
»Der Sohn von Emmerik? Ihr scherzt!«
»Hab’s den Richteherrn selbst sagen hören.«
Schon waren die Männer vorüber und steuerten eine Gasse zwischen zwei hohen Giebelhäusern an.
Die Bremer – verheiratet mit dem Sohn des Henkers?
24
E s waren höchstens zwei Dutzend Schaulustige, die sich an diesem Septembermorgen auf den Weg zur Richtstätte im Norden der Stadt begeben hatten. Zu heftig fegte der Sturm über die brachliegenden Felder, zu kräftig fiel der Regen auf den lehmigen Erdboden. Während Baldo den schlammigen Hügel erklomm, auf dem der Galgen stand, hielt er nach seinem Vater Ausschau. Da stand er, in einen knöchellangen Mantel aus grobem, dunklem Stoff gehüllt. Wie immer, wenn er ihn sah, kämpften Freude und Widerwillen in seinem Inneren miteinander. Wie üblich trug Emmerik Schimpf eine Kapuze über dem Kopf.
Seit sie vor über einem Jahr voneinander Abschied genommen hatten, waren sich Baldo und sein Vater nicht mehr begegnet. Der Scharfrichter trat unter den Galgen und überprüfte den Strick. An seiner Seite stand ein junger Mann mit dünnem Haar und einem fliehenden Kinn. Mein Nachfolger, dachte Baldo. Die Zuschauer tuschelten, drängten sich näher an den Ort des Geschehens heran. Der Wind zerrte an Baldos Umhang, als auch er sich vorwärtsschob. Verdammt, dabei hatte er sich geschworen, niemals wieder den Köpfelberg zu betreten, nachdem er mit Cristin aus Lübeck geflüchtet war – auch, um die blutige Nachfolge seines Vaters nicht antreten zu müssen. Doch das Blatt hatte sich gewendet. Er wollte mit eigenen Augen sehen, wie der Strick sich um Lynhards Hals zuzog, fester und fester, bis der Mann wie ein Blatt im Wind am Galgen baumelte. Dieses Schwein trug die alleinige Schuld an all dem Leid, das seiner Frau und der Kleinen widerfahren war. Für Lynhard Bremer machte er gern eine Ausnahme.
Das Geräusch von knarrenden Rädern riss ihn aus seinen Gedanken. Ein von einem kräftigen Braunen gezogener Pferdewagen näherte sich, auf dem Lynhard Bremer mit an einen Pfahl gefesselten Händen stand. Den Kopf hoch erhoben hielt er den Blick stur geradeaus gerichtet. Einst war der Verurteilte ein angesehener, allseits beliebter Pelzhändler gewesen, bekannt dafür, ein liebender Ehemann und Vater zu sein. Einer, dem die Weiber hinterhersahen. Doch er hatte ein Doppelleben geführt. Nun waren seine Verbrechen offenbar geworden, und Lynhard Bremer nur noch eine tragische, verachtete Figur. Hinter dem Wagen schritten Büttenwart und der Fiskal sowie der Priester, gefolgt von einem halben Dutzend mit Goldketten behängter Ratsmitglieder. Einige von ihnen schimpften lautstark über den schlammigen Boden, der ihnen die Schuhe verdreckte.
Baldo beobachtete reglos, wie ein Fronknecht Lynhard von dem Pfahl losband, ihn herunterzerrte und den Hügel hinaufführte. Den Mann, der Mädchen aus Polen und Litauen nach Lübeck gelockt hatte, um sie zu Hübschlerinnen zu machen. Den Mann, der aus Habgier seinen eigenen Bruder hatte umbringen lassen. Und der somit auch Cristins Unglück verschuldet, ja sogar ihren Tod gewollt hatte. Die Hände in seinen Umhang vergraben starrte Baldo auf den gebeugten Rücken Lynhards. Er spuckte neben sich aus.
Der feine Nieselregen drang durch Baldos Kleidung, aber er spürte es kaum. Hinter dem Fronbüttel blieb er stehen. Wie es üblich war, hatte man den zum Tode Verurteilten mit einem Leintuch geknebelt, um den Anwesenden das Geschrei und die Verwünschungen zu ersparen, mit denen viele Angeklagte die Zuschauer überschütteten, bevor das Leben aus ihren erschlafften Leibern wich. Der Büttel schob Lynhard vorwärts, bis er vor dem Galgen stand, und entfernte das Tuch aus dem Mund des Angeklagten.
Der
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