Das goldene Meer
weißes Bettuch, auf dem in großen, schwarzen, deutlich lesbaren Buchstaben SOS stand, jeder Ausguck auf den Schiffen mußte dieses Signal der Not, mußte im Fernglas die verzweifelt winkenden Arme sehen. Und tatsächlich: Sechs Schiffe reagierten. Aber ihre Signalhörner stießen hallende, trompetende Töne aus, als führen sie durch Nebel: Achtung! Aus dem Weg! Warnung! Kommt uns nicht vor und unter den Kiel! Aus dem Weg …
Bis auf die vier ganz kleinen Kinder saßen nun alle auf Deck und betrachteten die Schiffe, die an ihnen vorbeifuhren. Cuong notierte sich die Namen und die Flaggen, unter denen sie fuhren, und stieß bei jedem Namen einen wilden Fluch aus.
»Warum schreibst du sie auf?« fragte Xuong. Er schien ganz ruhig, hatte das Winken aufgegeben und zwang sich, hart zu sein und das laute Weinen der Frauen nicht zu hören.
»Ich werde sie alle anzeigen, wenn wir gerettet sind!« schrie Cuong und ballte die Fäuste. »Ich werde ihre Namen in die Welt hinausrufen …«
»Und was erreichst du damit? Niemand wird dir zuhören … Vergiß nicht, Cuong: Du bist doch Dreck!«
Fünf Tage und Nächte trieben sie auf der Schiffahrtsstraße, und nicht ein Schiff drosselte seine Motoren. Das Meer war noch grober geworden, ein heftiger Wind trieb die Wellen empor. Sieben Männer waren jetzt dabei, das Boot mit Handpumpen leerzuschöpfen, denn die beiden Lenzpumpen, vom Motor betrieben, schafften es nicht mehr. Voller Verzweiflung versuchte Cuong eine andere Taktik: Er fuhr neben Tankern oder Frachtern her, so nahe an die hochaufragenden Bordwände heran, wie es möglich war, ohne in den Sog zu kommen. Aber auch dieses Manöver nützte nichts. Von der Reling sah man zu ihnen herab, aber niemand war zur Hilfe bereit.
Am vierzehnten Tag waren neununddreißig Schiffe an ihnen vorbeigefahren. Und bei jedem war ihr Lebenswille neu erwacht. Sie winkten und schrien und sanken dann in sich zusammen, wenn das Heck mit der dröhnenden Schraube an ihnen vorbeirauschte und sie mit ihrer Verzweiflung wieder allein ließ auf dem seit Tagen aufgewühlten Meer.
Xuong saß zusammengekauert neben dem Motorgehäuse, hielt den Kompaß zwischen den Händen und überlegte, ob man nicht weiter nach Nordosten fahren sollte, statt hier bettelnd von Schiff zu Schiff zu pendeln. Die Schulkarte vom Südchinesischen Meer, die er mitgenommen hatte, half ihm wenig. Sie zeigte nur, welche unüberwindbaren Weiten vor ihnen lagen und wo die Länder waren, die ihnen ein Weiterleben schenken konnten, die aber unerreichbar waren mit diesem kleinen, flachen, zehn Meter langen Flußboot. Nur die Gnade des Kapitäns eines der großen Schiffe konnte sie retten, sonst nichts.
Und der alte, schnaufende Motor ihres Bootes tuckerte immer hohler, immer hämmernder.
Da tauchte zum erstenmal der Gedanke ans Sterben auf. Nicht panikartig. Nein, mit einer schrecklichen, dumpfen Ergebenheit. Nur die Augen der Mütter, verrieten, was sie dachten.
»Was soll werden?« fragte Cuong, drosselte den Motor und ließ das Boot wieder treiben. »Unser Benzin geht zu Ende, Xuong. Ich spare, wo ich kann. Aber der Motor säuft wie ein Trinker. Wenn sie alle vorbeifahren …«
Das Ende des Satzes blieb unausgesprochen, aber jeder wußte, wie er weiterging.
»Reicht es noch für fünf Meilen, Cuong?«
»Ich weiß es nicht. Wo willst du hin, Xuong?«
»Nach Nordosten. Zu den Schiffen, die von Hongkong kommen. Zur Gegenfahrbahn, wenn man von einer Straße sprechen will.«
»Sehen uns da andere Menschen?«
»Wir dürfen den Glauben nicht verlieren. Versuchen wir es.«
Der Himmel, der Wind, das Meer schienen es zu hören. Nach einer Stunde kam ein Sturm auf. Das Boot tanzte auf den meterhohen Wellen, wer nicht an Deck vonnöten war, hockte im Holzverschlag, Körper an Körper, durchnäßt bis auf die Haut, vom Salzwasser gebeizt, übersät mit brennenden, aufgesprungenen Rissen. Immer wieder klatschten die Brecher ins Boot, ließen die Holzsparren ächzen und knacken. Ohne Pause pumpten die Männer, an der Bordwand angeseilt, das Wasser zurück ins tobende Meer.
Eine Welle, haushoch wie ihnen schien, folgte so schnell der vorangegangenen, daß das Boot nicht mehr auf ihren Kamm gehoben werden konnte. Mit voller Wucht brach sie über ihnen zusammen, krachte in das Boot, für ein paar Sekunden gab es keinen Himmel und kein Meer mehr, nur undurchsichtiges, alles mitreißendes Wasser. Xuong wurde gegen den Motorkasten geschleudert, hielt sich irgendwo mit beiden Händen
Weitere Kostenlose Bücher