Das goldene Meer
Mensch wieder richtig durch, wird er auch wieder Nationalist!«
»Die lieben ihre Heimat! Sie nicht, Doktor?«
»Ich bin dort zu Hause, wo ich mich wohlfühle. Zur Zeit auf diesem Schiff.«
»Es fährt unter deutscher Flagge.«
»Das ist äußerlich. Sie sagten eben Heimat. Was ist Heimat? Das Fleckchen, auf dem man geboren wurde? Das Land der Vorfahren? Das Stück Erde, auf dem man sein ganzes Leben verbringt? Ich kann Heimat nicht erklären.«
»Sie haben an nichts eine innere Bindung?«
»Ich wüßte spontan nichts zu nennen.«
»Ihr Vater?«
»Ich achte ihn. Früher habe ich ihn gefürchtet. Er war und ist ein Tyrann, ein absoluter Herrscher. Erzeugt das Heimatgefühle?«
»Ihre Mutter?«
»Ich liebe sie. Aber ich kann sie auch von Neuseeland oder Alaska aus lieben oder von Tonga. Heimat und Heimweh, das gehört ja wohl zusammen. Ich habe noch nie Heimweh gehabt.«
»Da fehlt Ihnen viel, Doktor. Auch nicht Heimweh nach einer Frau?«
»Das schon gar nicht.« Dr. Starke lachte laut. »Das wäre das Letzte, lieber Büchler. Eine Frau als Mittelpunkt meines Lebens … du guter Himmel, da müßte ich total verblödet sein. Dann vielleicht …«
Hugo Büchler ließ ihn stehen und ging zurück ins Deckhaus. Welch ein Widerling, dachte er mit Bitternis. Und so einer drängt sich zwischen Julia und mich? Wenn ich Beweise hätte – ich würde ihn erledigen.
»Eine eindrucksvolle Taufe, finden Sie nicht auch, Anneliese?« fragte Dr. Herbergh und legte wie zufällig den Arm um ihre Schulter. Sie wunderte sich darüber, ließ es aber geschehen.
»Keiner von uns kann das Glück ermessen, das sie jetzt erleben. Ihre Rettung, die Aussicht auf ein neues Leben. Wir können es kaum nachempfinden. Aber darf Xuong denn taufen?«
»Xuong sagt, er sei Christ, und ein Christ dürfe im Notfall auch taufen. Übrigens, wir haben über Radio Singapur ein Funktelegramm aus Köln bekommen, Anneliese. Von Albert Hörlein. In Deutschland hat bereits ein verbissener Politikerkampf gegen unsere Geretteten begonnen. Das Wort ›Asylbewerber‹ ist zum totalen Reizwort geworden. Die Halbtoten, die wir hier auffischen, werden als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet, nicht als politische Flüchtlinge. Man weigert sich, Aufnahmeplätze zur Verfügung zu stellen, man will keine Übernahmegarantie geben. Das heißt: Alle, die wir an Bord haben und die wir noch retten werden, sind heimatlos. Keiner will sie haben, und das wiederum bedeutet: Keiner darf an Land. Wo das noch hinführen soll, weiß ich nicht. Wir können doch nicht zu einem Gespensterschiff werden. Der Fliegende Holländer des goldenen Meeres.« Dr. Herbergh nickte zu den singenden Vietnamesen hinüber. Sie hatten den winzigen ›Duc‹ umringt, und Cuong wiegte ihn nach dem Takt der Lieder in seinen Armen. Thi, nun schmal und klein und von der Geburt geschwächt, lag auf einer Decke im Kreis und lächelte glücklich. Die Infusionen hatten sie und das Kind gerettet. Dr. Starke sprach bewundernd von der Zähigkeit dieser Menschen.
»Sie ahnen nichts von dem, was auf sie zukommt«, sagte Dr. Herbergh bedrückt. »Vor drei Jahren noch war das anders. Aber jetzt laufen die Geschäfte mit Vietnam gut, und plötzlich ist der Kommunismus nicht mehr verdammenswert. Nicht in dieser asiatischen Ecke! Der Wert von Menschen richtet sich nach Ex- und Import.« Er schwieg.
Dr. Starke war zu ihnen getreten, und weil Dr. Herbergh seinen Arm um Annelieses Schulter gelegt hatte, hakte er sich bei ihr unter. Sie spürte die Notwendigkeit, etwas zu bemerken.
»Sollen wir uns nicht setzen?« fragte sie sehr höflich und sehr abweisend. »Die Herren sind anscheinend sehr erschöpft und müssen sich festhalten.«
Sofort zog Dr. Herbergh seinen Arm zurück, und auch Dr. Starke nahm die Hand aus Annelieses Armbeuge.
»Ich habe noch nach ein paar Kranken zu sehen!« sagte Dr. Herbergh steif. »Wilhelm, wie viele Infusionen haben Sie noch angeschlossen?«
»Neun, Chef.« Dr. Starke wußte, wie sehr sich Herbergh über diese Anrede ärgerte, aber immer, wenn Rivalität aufkam, am OP-Tisch, bei Diagnosen oder bei Anneliese, stieß Starke mit dem Wort ›Chef‹ zu. »Darum kümmert sich ›Kätzchen‹.«
Damit war Julia Meerkatz gemeint. Niemand wußte, wer zum erstenmal für sie den Namen ›Kätzchen‹ gebraucht hatte, – er war plötzlich da, wurde von allen akzeptiert und sofort übernommen. Auch Julia fand, daß es eine Schmeichelei sei, ein richtiger Kosename. Nur Johann Pitz, der
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