Das goldene Meer
SOS.«
»Kaum zu erkennen. Total zerfetzt. Vielleicht wollen sie damit nur andere Flüchtlinge anlocken. Die Halunken arbeiten mit allen Tricks.«
»Abwarten.« Büchler ließ die Maschinen stoppen. Die Liberty glitt jetzt, getrieben vom eigenen Gewicht, langsam auf das kleine Boot zu. Die Köpfe tauchten wieder über der Bordwand auf, ein Mann im Heck breitete die Arme weit aus.
»Mein Gott –«, sagte Kranzenberger und umklammerte seinen Feldstecher. »Wie sehen die aus! Die kommen nie die Leiter hoch. Die müssen wir einzeln tragen.«
Der Kran mit dem Schlauchboot schwenkte aus und ließ es zu Wasser. Stellinger, v. Starkenburg und Dr. Starke kletterten die Lotsenleiter hinunter und warteten, bis das Schlauchboot unter ihnen war. Stellinger sprang zuerst hinein und rutschte sofort zum Außenbordmotor, der ohne Verzögerung ansprang.
Dr. Starke, der sich einen Notarztbeutel um den Hals gehängt hatte, stieg als letzter in das Boot und zog die Schultern hoch. Was ihn von drüben, von dem kleinen, flachen Holzkahn, anstarrte, waren kaum noch Menschen. Er sah ein paar Männer, die ihre Frauen in den Armen hielten wie schlaffe Puppen. Er sah zwei Kindergesichter, die Hundertjährigen glichen. Und er sah einen Mann, der auf die Motorverkleidung eine hochschwangere Frau gelegt hatte, sie umarmte und mit zuckendem Körper weinte.
»Was ist denn los, Franz?!« brüllte er plötzlich. »Warum fahren Sie nicht?!«
»Erst wenn Sie sitzen, Doktor.« Stellinger gab Standgas, und Dr. Starke setzte sich auf das aufgeblasene Kissen. »Wenn Sie ins Wasser fallen, ist Ihr schöner Notbeutel hin. Dann also, los!«
Der Motor knatterte laut, das Schlauchboot legte ab. Dr. Herbergh verließ die Nock und ging in das Hospital. »Infusionen vorbereiten«, sagte er, von dem ergriffen, was er gesehen hatte. »Hoffentlich haben wir noch genug Flaschen.«
Als Dr. Starke als erster in das Flüchtlingsboot sprang, kniete Cuong vor ihm nieder und küßte ihm die Hände. Es war ihm peinlich, aber er konnte den ausgedorrten, weinenden, zerschundenen Mann verstehen.
2
Aus dem Tagebuch von Hugo Büchler, 1. Offizier der Liberty of Sea.
07.04 Nord/108.18 Ost. Wir haben kurz nach 18 Uhr hiesiger Zeit ein Boot mit 43 Flüchtlingen gefunden. Noch nie habe ich so viel Elend und so viel Dankbarkeit bei Menschen gesehen, wie bei diesen halbtoten Flüchtlingen. Sie waren nicht mehr fähig, die Lotsenleiter allein hochzuklettern. Stellinger und Dr. Starke mußten die Frauen und die Kinder auf dem Rücken hinauftragen. Wir nahmen sie an Deck in Empfang und schleppten sie zu Dr. Herbergh ins Hospital. Einige ließen sich einfach auf die Planken fallen und lagen dann wie tot da, reagierten nicht mehr auf Anrufe, waren nicht mehr fähig, auch nur den Arm zu heben oder sich aufzurichten. Starkenburg fuhr mit dem Schlauchboot zwölfmal hin und her. Ein Glück, daß die See ruhiger war als bei anderen Rettungen.
Als letzter kam ein älterer Mann an Bord, der sich mir als Xuong vorstellte. Mit einer Salzkruste überzogen, mit verquollenen, entzündeten Augen, abgemagert zu einem Gerippe, das mit einer Lederhaut überspannt war, verbeugte er sich tief vor mir und sagte: »Mein Name ist Lam Van Xuong. Ich habe dieses Boot geführt. Wir waren zwanzig Tage auf dem Meer und wollten morgen sterben. Es gab für uns keine Hoffnung mehr. Aber es gab ein Wunder … und das ist Ihr Schiff. Gott wird das nie vergessen.« Dann verbeugte er sich noch einmal tief, sank in sich zusammen und wurde bewußtlos. Stellinger warf ihn sich über die Schulter und trug ihn an Deck.
Starkenburg fuhr noch einmal zu dem kleinen Flußboot. Er räumte zusammen, was die Flüchtlinge zurückgelassen hatten, denn niemand konnte auch nur noch eine Tasche tragen, einen Kleidersack oder einen aufgeweichten Karton schon gar nicht. Er brachte alles an Bord. Und dann geschah das, was leider unvermeidlich war: Wir versenkten das Boot. Eine kleine Sprengladung riß ein Loch in den Boden; in wenigen Minuten war der Kahn vollgelaufen und sank weg.
Unsere Ärzte und Pitz und Julia arbeiteten bis tief in die Nacht hinein. Auch Stellinger und Kroll halfen mit, der Dolmetscher Hung und sogar unser Chief. Auch ich bot mich an und wurde bei der Überwachung der Infusionen eingesetzt. Vierunddreißig Gerettete, darunter alle Frauen, bekamen einen Tropf, um ihren furchtbaren Flüssigkeitsverlust langsam wieder auszugleichen. Julia kümmerte sich um die Kinder, die wie verschrumpelte Greise aussahen.
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