Das goldene Meer
daß sie aufstehen und ohne zu Schwanken herumgehen konnte und sofort das Austeilen der Mahlzeiten übernahm. Er brachte ihr Salbe für die aufgesprungenen Lippen, und als sie ihm ihren Mund hinhielt, strich er die Creme auf ihre Lippen, blickte in ihre tiefbraunen, fast schwarzen Augen und lag dann die ganze Nacht wach in seiner Kabine und dachte an sie.
Jetzt, bei dem Gesang für den kleinen Duc, stand er im Kreis der Vietnamesen und hörte ihre schöne, weiche Singsang-Stimme, die so ganz anders war als die Stimme, mit der sie sprach. Ab und zu drehte sie den Kopf zur Seite und blickte zu ihm auf. Stellinger war einen Kopf größer als sie, ein Turm neben ihrer zerbrechlich wirkenden Zierlichkeit. Sie lächelte, und Stellinger versuchte ein Grinsen, während ihm das Herz in der Kehle klopfte.
Fast eine Stunde dauerte der Gesang der Vietnamesen, bis Julia, das Kätzchen, in den Kreis brach und sagte: »Schluß jetzt! Die Mutter braucht Ruhe, das Kind erst recht! Cuong, bring beide zurück ins Hospital. Aber flott!«
Dolmetscher Hung übersetzte es, und die Vietnamesen lachten. Cuong legte Julia den kleinen Duc in die Arme, hob seine Frau Thi auf und trug sie zurück zum Deckhaus. Die Festversammlung zerstreute sich. Die meisten stiegen hinunter zu ihren Lagern. Kim blieb an Deck, allein mit Stellinger.
»Kim …«, sagte Stellinger heiser. Ihm preßte sein Herzschlag die Stimme ab. Schon dieses eine Wort kostete ihn eine zentnerschwere Überwindung. Früher, bei so vielen Liebschaften in den Häfen in aller Welt, war er flotter gewesen. Aber das waren Mädchen gewesen, die nach an Land gehenden Matrosen ausschauten, ihnen ein paar schöne Stunden schenkten und dann auf das nächste Schiff warteten. Kim war anders. Kim war eine Zauberblume, die er aus dem Meer gefischt hatte. Er hatte sie auf seinem Rücken die Lotsenleiter hinaufgetragen, und sie hatte sich an ihn geklammert und in seinen Nacken geweint.
»Ja?« sagte Kim. Sie sprach Englisch. Ihr Blick tastete über sein Gesicht.
»Kim, ich möchte Vietnamesisch lernen.«
»Bei mir?«
»Nur bei dir.«
»Warum willst du Vietnamesisch lernen?«
»Weil es deine Sprache ist, Mai.«
»Ich heiße Kim.«
»Aber für mich bist du Mai. Bei uns ist Mai ein Monat.«
»Ich weiß. Mai ist der Frühlingsmonat. Es gibt viel Gedichte über ihn. Ihr nennt ihn auch den Wonnemonat. Unser Pater hat uns ein Lied davon vorgesungen. Aber warum willst du mich Mai nennen?«
»Du … du bist der Frühling …« Stellinger spürte, daß Verlegenheit in ihm hochstieg und er sich benahm wie ein dummer Junge. »Sag nein, wenn du nicht willst.«
»Ich will. Ich bin jetzt Mai …«
»Danke.«
»Und wie heißt du?«
»Franz.«
»Oh! Das ist schwer zu sprechen. Ich werde dich Toam nennen.«
»Toam. Das ist ein schönes Wort.«
»Toam lernt bei Mai Vietnamesisch und Mai lernt bei Toam Deutsch …«
»Du willst Deutsch lernen? Aber wozu denn?«
»Weil es deine Sprache ist, Toam. Wie bei dir … Wann fangen wir an?«
»Wann du willst, Mai.«
»Heute abend, nach dem Essen?«
Stellinger nickte. Ein erdrückendes Glücksgefühl lähmte seine Stimme. Mit Mühe gelang ihm ein Wort: »Wo?«
»Wo du willst, Toam.«
»Auf dem Achterdeck? Neben der Küche? Ich werde zwei Liegestühle hinbringen. Ist das richtig?«
»Es ist alles richtig, was du tust, Toam.« Sie blickte ihn mit einem Lächeln und glänzenden Augen an und ging dann über das Deck zur Treppe in die Lagerräume. Stellinger sah ihr nach, atmete ganz flach und langsam und bezwang sich, nicht mit beiden Fäusten gegen sein Herz zu trommeln.
Am Ende der Treppe des Unterdecks wartete Vu Xuan Le auf Kim Thu Mai. Er trug einen dicken Salbenverband um die Schulter. Die Messerwunden hatten sich entzündet und waren aufgequollen. Es mußte sehr weh tun, aber Le verzog keine Miene. Erst wenn die Schwellungen zurückgegangen waren, wollte Dr. Herbergh die Wunden nähen.
»Was wollte er von dir?« fragte er ohne Umschweife.
»Er will Vietnamesisch lernen.«
»Bei dir?«
»Ja. Ich kann ja Englisch.«
»Er frißt dich mit den Augen, Kim. Seit zwei Tagen schleicht er dir nach wie ein Jaguar. Ich sehe alles.«
»Ich weiß es nicht. Aber wenn es stimmt – was geht es dich an, Le?«
»Ich habe Pläne für die neue Zeit, in die man uns bringt. Hast du schon über deine Zukunft nachgedacht?«
»Nein.«
»Ich um so mehr.«
»Keiner weiß, wohin wir kommen.«
»Aber irgendwohin kommen wir. In ein fremdes Land. Ob Deutschland
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