Das goldene Meer
eingeschlafen, aber ein ihr wohlbekanntes Geräusch drang in ihr Unterbewußtsein und verjagte den Schlaf sofort: Stöhnen! Qualvolles Stöhnen! Zu Lauten gewordene Schmerzen. Jede Nachtwache im Krankenhaus kennt es, das Röcheln, Stöhnen und in Wimmern eingebettete laute Atmen.
Ut, die junge Frau, beugte sich über den Todkranken und sprach flüsternd auf ihn ein. Er hob den Kopf, faltete die Knochenhände, ließ sich wieder zurückfallen und zog die Beine an. Der krampfartige, stechende, unerträgliche Schmerz durchflutete ihn wie eine Welle.
Ich kenne das, armer Mann, dachte Anneliese. Ich habe an genug Betten gesessen und Analgetika injiziert. Und ich höre sie noch schreien: Helfen Sie mir doch, Frau Doktor! Helfen Sie mir. Ich halte es nicht mehr aus! Lassen Sie mich doch sterben.
Und dann geschah das, worauf Anneliese gewartet hatte und was das große Geheimnis dieses Mannes war: Ut, die junge Frau, legte beide Hände auf den zuckenden Leib des Stöhnenden und begann mit kreisenden Bewegungen Magen und Bauch ganz leicht zu massieren. Jetzt muß er brüllen, dachte Anneliese. Jetzt muß er schreien, daß alles aufwacht. Mein Gott, Ut massiert seinen vom Tumor zerstörten Magen.
Aber der Kranke schrie nicht. Er wurde ruhiger, streckte die Beine wieder aus, lag da mit geschlossenen Augen, das wilde Zucken seines Gesichtes verebbte. Und er lächelte. Der Inoperable, der sich noch vor Minuten gekrümmt hatte vor unerträglichen Schmerzen, lag mit einem Lächeln da und ließ sich alles Leid wegstreicheln. Wegstreicheln mit Uts Händen, die immer und immer, im gleichen Tempo, wie eine Maschine, über seinen Leib glitten, über den Magen kreiselten und hinunterschwebten bis zum Nabel. Hände, die den Schmerz wegstreichelten, die ihn einzufangen schienen. Viermal unterbrach Ut ihr Kreiseln, preßte die Handhöhlen zusammen, als halte sie darin etwas fest, stieß die Hände dann in die Luft und öffnete sie dort.
Sie wirft die eingefangenen Schmerzen weg, dachte Anneliese wie gebannt. Sie läßt die Schmerzen wegfliegen wie Vögel. Sie hat die Schmerzen aus dem Körper gezogen und hält sie in den Händen. Fred hält mich für verrückt, wenn ich ihm das erzähle. Keiner glaubt mir das. Wie kann man auch so etwas Ungeheuerliches glauben?
Der Kranke lag jetzt ganz ruhig, atmete durch und schlief mit diesem glücklichen Lächeln ein. Ut wartete, bis er in tiefem Schlaf lag, richtete sich dann auf, warf noch einmal die eingefangenen Schmerzen in die Luft und tauchte die Hände bis zu den Ellenbogen in einen Krug mit Wasser. Völlig erschöpft legte sie sich darauf zwischen ihre Kinder, schob ein flaches Kissen unter ihren Nacken und schlief nach wenigen Sekunden ein.
Mit dem Gefühl, in eine andere Welt geblickt zu haben, deren Geheimnisse sie nie ergründen würde, stieg Dr. Anneliese Burgbach die Treppe hinauf an Deck und atmete die reine, kühle Seeluft ein. Der Scheinwerfer kreiste über dem Deckhaus, das Schiff machte kleine Fahrt. Mit gesenktem Kopf ging Anneliese über Deck, als fiele es ihr schwer, sich nach diesem Erlebnis in der realen Welt noch zurechtzufinden.
Noch nie hatte Franz Stellinger mit soviel Freude Liegestühle herumgeschleppt wie an diesem Abend. Er baute sie neben der hölzernen Küchenwand der Vietnamesen auf, holte noch einen Sonnenschirm und den schweren Betonfuß, einen Klapptisch und zwei Gläser und ging dann in die Kabine, wo Hans-Peter Winter, der Koch, auch die Getränke unter Kontrolle hatte.
Winter sah Stellinger mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Was ist?« fragte er. »Kein Schokoladenpudding mehr da.«
»Ich brauche Gin, Maracujasaft, einen Becher Eis, zwei Cocktaillöffel …«
»… ein Girl mit Riesentitten und Kraftpillen ›Immer ran‹.«
»Ich muß deine verklopsten Kanonenkugeln aufweichen!« sagte Stellinger.
Winter grinste breit. »In die nächsten Klopse mische ich dir Eisenspäne, darauf kannst du dich verlassen. Gin willst du? Wieviel?«
»Gib 'ne Flasche raus.«
Winter holte ein kleines Blechtablett, das mit einer holländischen Landschaft bemalt war, und stellte Gin, eine Kanne mit Maracujasaft und zwei Gläser mit zwei langen Löffeln darauf. »Sieht ganz nach einer Orgie aus«, sagte er dabei. »Nur die Titten fehlen.«
»Du bist eine ordinäre Sau!« brüllte Stellinger ihn an. Er nahm das Tablett, balancierte es auf Deck und trug es zu den Liegestühlen. Das Abendrot glühte wieder über dem ganzen Himmel und brannte im Meer. Diese wenigen
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