Das goldene Meer
Krankenschwester, ich Krankenpfleger, da haben wir eine sichere Zukunft. Werden irgendwo in einer Klinik arbeiten, uns ein schönes Häuschen bauen, ein Auto, einen Kombi kaufen, denn ich will mindestens drei Kinder von dir haben, und überhaupt – ich liebe dich, Kätzchen.« Pitz wartete zehn Sekunden, doch Julia schwieg. »Warum gibst du keine Antwort?«
»Ich stelle mir vor: Ich und drei Kinder und mit der Hacke im Garten, die Gemüsebeete sauber halten, das Gras schneiden, die Blumen pflegen …«
»Ein herrliches Bild. Man könnte es malen …«
»… und das vierte Kind im Bauch – Jo, dafür bin ich nicht geboren.«
»Was stellst du dir denn vor?«
»Leben! Die Welt sehen. Arbeiten – natürlich. Aber nach der Arbeit will ich alles mitnehmen, was das Leben mir bieten kann. Ob Tokio oder Miami, Hawaii oder Tahiti – ich will alles genießen.«
»Und wenn du alt bist?«
»Wer denkt ans Alter, Jo?! Ich will ewig jung bleiben!«
»Das wäre das einzige, was dir keiner schenken kann. Kätzchen, wir werden zusammen glücklich und schön alt werden. Du weißt vielleicht nicht, wie wichtig es ist, im Alter zufrieden zu sein. Ich weiß es! Ich habe einen Vater, der sein Alter wegsäuft, der meine Mutter ins Grab gesoffen hat. Sie ist an Krebs gestorben, aber man kann auch durch Kummer Krebs bekommen, sagen einige Ärzte. Meine Mutter ist ein Beweis dafür. Ich möchte mit dir einen schönen Lebensabend haben. Wie alt bist du? Vierundzwanzig. In sechsundvierzig Jahren bist du siebzig. Was sind sechsundvierzig Jahre?! Sie sausen dahin.«
»Und ich will mit ihnen sausen, Jo! Du lieber Himmel! Sechsundvierzig Jahre Leben, und dann bin ich erst siebzig. Soll ich davon zehn Jahre im Wochenbett liegen und die anderen Jahre Möhren und Stangenbohnen züchten? Das nennst du schön?«
Pitz wurde nachdenklich. Er sah Julia lange an, dieses fabelhafte Geschöpf, mit dem schönsten Busen, den er je gesehen hatte, mit Augen wie glitzernde Steine, o verdammt, sie hatte recht. Sie war nicht das Hausmütterchen, sie war die ewige Geliebte, die Unersättliche. Auch das kann ein Leben sein – natürlich hatte sie recht. Julia, ich mache mit.
»An was denkst du jetzt?« riß sie ihn aus seinen Gedanken. »Bist du traurig?«
»Worüber sollte ich traurig sein?«
»Du denkst an siebzig Jahre, ich an morgen oder übermorgen. Das paßt nicht zusammen.«
»Wir werden heiraten, Julia, und dann so lange rund um die Welt fahren, bis du sagst: Jetzt hab' ich es satt! Ich will nicht mehr nach Tahiti, ich will ein Häuschen in der Heide oder am Rhein oder auf einer bayerischen Wiese oder auf Mallorca oder Teneriffa.«
»Du liebst mich wirklich, Jo.«
»Ich kann es nicht beschreiben.«
»Wann willst du heiraten?«
»Wenn unser Einsatz hier beendet ist und wir in Hamburg an Land gehen. Einverstanden?«
Sie gab keine Antwort, aber sie nickte. Pitz bezwang sich, sie vor den Patienten, auch wenn es Vietnamesen waren, die kein Wort verstanden hatten, in die Arme zu nehmen und zu küssen. Er nickte zurück und rannte aus dem Krankenzimmer, stieß draußen einen Juchzer aus und stieg dann zur Brücke hinauf. Sein Wachdienst begann. Vier Stunden lang das Meer absuchen, in die Nacht hineinleuchten, mit einem kreisenden Schweinwerfer auf dem Dach des Deckhauses. Das Signal für alle Hoffnungslosen: Hier ist Rettung! Wir holen euch ins Leben zurück!
Büchler, der 1. Offizier, den er ablöste, gab ihm die Hand. »Alles ruhig, Johann«, sagte er. »Vor einer Stunde ein Licht an Steuerbord. Muß ein großer Trawler gewesen sein. Er war schnell wieder weg. Eine gute Nacht, Johann.«
»Ebenso, Erster. Hören Sie wieder Schallplatten?«
»Heute ›Carmen‹ mit der Migenes und Placido Domingo.«
»Ist mir kein Begriff. Ich bin ein Musikbanause. Ich bin aufgewachsen mit schweinischen Liedern, die mein Vater sang.«
»Sie sollten mal zu mir kommen und sich ein paar Platten anhören, Johann. Vielleicht kriegen Sie dann den Dreh.«
»Möglich. Bis morgen, Erster.«
Büchler ging. Pitz setzte den Feldstecher an die Augen und suchte das Meer nach Lichtern ab. Opern. Carmen. Ob Julia Opern mochte? Überhaupt diese Musik? Er hatte sie nie danach gefragt. So wenig kannte man den Menschen, mit dem man ein ganzes Leben zusammen bleiben wollte. Und es gab noch so viele Fragen, die man stellen konnte, ganz einfache Fragen, die aber eines Tages wichtig werden konnten wie etwa: »Gehst du gern spazieren« oder »Schwimmst du gern?«
Fritz Kroll,
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