Das goldene Meer
an Anneliese vorbei auf die Röntgenbilder an der erleuchteten Mattglasscheibe.
»Unbedingt. Vielleicht wartet sie darauf.«
»So sicher bin ich mir nicht.«
»Um so notwendiger ist es, sich Klarheit zu verschaffen.« Sie erhob sich. Noch deutlicher zu werden, war auch für sie nicht mehr möglich. »Es braucht ja nur eine Zeile zu sein.« Sie legte ganz kurz die Hand auf seine Schulter, mit einem leichten, aber spürbaren Druck, und verließ dann schnell das Zimmer.
Herbergh atmete aus wie ein Gewürgter, der plötzlich Luft bekommen hat und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Du hast gut reden«, sagte er gegen die zugeschlagene Tür. »Wenn ich von dir bloß ein Zeichen bekäme …«
Ein Frauenkenner war Dr. Herbergh wirklich nicht.
Bevor Dr. Burgbach hinab zum Unterdeck stieg, sprach sie mit Krankenpfleger Johann Pitz. Er war auf der Station damit beschäftigt, einem ausgemergelten Mann den Blutdruck zu messen. Kätzchen Julia verband eine Operationswunde; gestern hatte Dr. Herbergh hier einen Furunkel herausgeschnitten.
»Wo liegt unser Ca?« fragte Anneliese.
»Im Raum zwei, Frau Doktor.« Pitz unterbrach seine Blutdruckmessung und ließ die Luft aus der Manschette. »Dem geht es, wie immer, gut.«
»Hat er heute abend gegessen?«
»Gefressen! Zwei Schüsseln voll Nudelsuppe. Mir ist ein Rätsel, wo er das läßt.«
»Und er hat noch immer keine Schmerzen?«
»Nicht ein Stichelchen. Er sagt jedenfalls nichts. Wenn Hung ihn fragt, murmelt er etwas. Hung übersetzt es mit ›Leck mich am Arsch!‹. Verzeihung, Frau Doktor, aber das ist die Wahrheit. Ich wußte gar nicht, daß die Vietnamesen auch diesen Satz haben.« Pitz war plötzlich sehr verlegen, weil sich Julia hinter Annelieses Rücken an die Stirn tippte.
»Erbricht er das Essen oder einen Teil davon?«
»Nicht ein Nüdelchen, Frau Doktor. Hat der Kerl wirklich ein Magen-Carzinom?«
»Und was für eins. Inoperabel. Eigentlich müßte er schon unter Morphium stehen. Ist einem von euch etwas aufgefallen?« Eine dumme Frage, dachte sie sofort. Wenn wir Ärzte schon vor einem Rätsel stehen, wie können uns da Julia und Johann Auskunft geben? Der Kranke liegt unter Deck, wird nicht mehr behandelt, und wir alle warten darauf, daß er endlich Schmerzen bekommt und wir wenigstens etwas tun können. Eine makabre Situation: Ärzte warten auf Schmerzen. Das darf man in der übrigen Welt gar nicht erzählen.
»Nee, nichts Besonderes, Frau Doktor.« Pitz war durch Julias Idiotenzeichen vorsichtig geworden.
»Nichts Besonderes heißt: doch etwas. Was fiel Ihnen auf, Johann?«
»Immer, wenn ich an sein Lager komme, sitzt eine junge Frau bei ihm. Ut heißt die, und hat drei kleine Kinder. Sie war im ersten Boot, das wir fanden. Gestern war sie vier Wochen an Bord.«
»Und was macht Ut bei ihm?«
»Nichts. Sie sitzt nur neben ihm, ihre drei Kinder neben sich, und scheint darauf zu warten, daß er stirbt.«
»Woraus schließen Sie das denn?«
»Sie hat aus Papier eine Girlande geflochten und hinter seinen Kopf gelegt. Wenn er tot ist, wird sie die Girlande über seinen Kopf ziehen und auf die Brust legen.«
»Danke, Johann.« Anneliese klopfte ihm auf die Schulter und verließ die Krankenstation. Kätzchen Julia verzog ihr Puppengesicht.
»Du hast dich unmöglich benommen, Jo!« Anscheinend war es ihre Spezialität, die Namen ihrer Liebhaber abzukürzen. Go und Jo. Und Dr. Starke nannte sie einfach Wil. »Auch wenn's eine Tatsache ist, man drückt das einer Dame gegenüber anders aus.«
»Ich werde mich bemühen, meine Dame.« Pitz machte eine leichte Verbeugung. »Gehen wir ins Vorratslager und testen die Beckenmuskeln?«
»Schon wieder?!«
»Das letztemal war vor zwei Tagen.«
»Es geht nicht!« Julia hatte den Verband fertig und deckte den Patienten zu. »Heute nicht und morgen nicht.«
»Du bist kein Kätzchen, sondern ein Folterknecht. Das sind ja vier Tage!«
»Genau das ist es, die Tage.«
Pitz atmete auf. Das ist es. Welcher Mann denkt daran und hat die Tage im Kopf? »Ein Glück, daß du sie noch hast«, sagte er. »Ich habe gar nicht darüber nachgedacht.«
»Typisch Mann. Wo kämt ihr hin, wenn wir Frauen nicht mitdenken würden?«
»Ich würde dich heiraten, Julia«, sagte Pitz mit angemessener Würde.
»Jo! Was ist mit dir los?! Meinst du das ernst?«
»Ganz ernst.«
»Soll das ein Heiratsantrag sein?«
»Wenn du glaubst, es könnte einer sein, dann ist es einer. Julia, wir passen doch gut zueinander. Du
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