Das goldene Meer
Minuten des Abschied nehmenden Tages erweckten selbst bei Stellinger das Gefühl, daß so viel Schönheit nur stumm zu betrachten war.
Und dann kam Kim Thu Mai. Sie hatte sich, soweit das möglich war, festlich angezogen, trug eine hellblaue Bluse, einen langen Rock, ungebügelt und voller Falten, das schwarze Haar war mit einem roten Band zusammengehalten und an den zierlichen Füßen hatte sie die flachen Plastiksandalen, die jeder Gerettete an Bord erhielt. Die meisten Flüchtlinge waren barfuß gewesen, oder das Salzwasser hatte die billigen Schuhe aufgelöst und zerfressen.
»Mai, du siehst phantastisch aus!« sagte Stellinger mit stockendem Atem. Gegen den flammenden Himmel wirkte sie wie eine Traumgestalt.
»Mehr habe ich nicht mitnehmen können, Toam. Entschuldige, daß alles so zerknittert ist.«
»Auch wenn du Lumpen tragen würdest, bist du die Schönste.« Er zeigte auf einen Liegestuhl. »Setz dich.«
»Ich soll mich hineinlegen?« Sie blickte vom Liegestuhl zu Stellinger und zurück. Ihre braunschwarzen Augen zeigten Abwehr. »Ich setze mich neben dich auf den Boden.«
»Aber dafür ist doch der Stuhl da, Mai.«
»Ich kann mich nicht neben dich legen, Toam. Verstehst du?«
»Nein.«
»Neben einem Mann liegt nur seine Frau oder seine Geliebte.«
»Aber doch nicht in einem Liegestuhl!« Stellinger war verwirrt. Wie verdammt kompliziert ist das alles! Er ließ sich in seine Liege fallen und klopfte mit der Hand auf den Bezug des freien Stuhles. »Komm hierhin, Mai. Willst du etwas trinken?«
»Nein.« Sie setzte sich zögernd, sah wieder Stellinger an und schob dann so vorsichtig, als könne sie einbrechen, die Beine hoch. Sie lehnte sich zurück und ließ die Hände an den Seiten herunterhängen. »Es ist das erstemal, Toam.«
»Du hast noch nie in einem Liegestuhl gelegen?«
»Nein. In der Missionsschule gab es vier Stück. Aber die waren für den Pater, die Schwestern und für die Gäste da, die uns besuchten. Von uns hat sich niemand hineingelegt, auch nicht heimlich.«
»Dann müssen wir das jetzt unbedingt feiern!« rief Stellinger, richtete sich auf, griff nach Gin und Maracujasaft und mischte sie in den Gläsern. Zuletzt warf er die Eiswürfel hinein und rührte mit den Löffeln um. »Mai zum erstenmal in einem Liegestuhl. Prost!«
Er hielt Kim das Glas hin.
Sie nahm es und roch daran. »Was ist das, Toam?«
»Ein Cocktail.«
»Was ist ein Cocktail?«
»Ein Gemisch von – na, wie soll man sagen – von verschiedenen Getränken. Probier es, Mai, es wird dir gefallen.« Er hob sein Glas, prostete ihr zu und nahm einen langen Schluck. Kim schaute ihm zu, setzte dann vorsichtig das Glas an ihre Lippen und ließ die Zungenspitze vorschnellen. Wie bei einer tastenden Schlange sah es aus, mißtrauisch und doch neugierig. Erst darauf trank sie ein paar Tropfen des Cocktails und setzte das Glas schnell auf den Klapptisch zurück.
»Schmeckt das gut?« fragte Stellinger, der jede ihrer Bewegungen in sich aufnahm. Er starrte sie an, als könnten seine Augen sie aufsaugen.
»Es brennt auf der Zunge und im Hals.«
»Das ist der Gin. Alkohol.«
»Ich habe noch nie Alkohol getrunken, Toam. Der Pater sagte immer: Im Alkohol wohnt der Teufel. Das ist wahr. Ich habe so viele Männer gesehen, die haben Reisschnaps getrunken, prügelten sich dann, krochen über den Boden, schlugen ihre Frauen, stießen fremde Laute aus und waren nicht mehr die Männer, die wir kannten. Der Teufel war in ihnen.« Sie hob die Hand, tippte mit dem Zeigefinger an Stellingers Glas und sagte ganz ernst: »Schütte es weg, Toam. Ich will nicht, daß der Teufel in dich kommt.«
»So schnell ist er nicht da, Mai.« Stellinger lachte, stellte aber sein Glas zurück auf den Tisch. »Erzähl mir von dir, von deinem Dorf, wie du gelebt hast – ich will alles wissen. Und dann erzähle ich dir von mir.«
»Wir wollten lernen, Toam. Ich will deutsche Wörter lernen.«
»Das hat Zeit, Mai.«
»Nein, es hat keine Zeit. Wenn man mich nach Deutschland bringt, will ich sagen können: ›Guuutten Taaagg‹ …«
»Bravo!« Stellinger klatschte in die Hände und beugte sich zu Kim hinüber. Ein verflucht schlechter Platz, knurrte er innerlich. Jeder kann uns sehen. Bist ein Riesenrindvieh, Franz. Jetzt wäre die Gelegenheit gewesen, sie zu küssen. Aus Begeisterung, damit hätte man das entschuldigen können. Aber hier sitzen wir wie auf einer Bühne und müssen ein saudummes Theaterstück vorspielen. »Woher kennst du
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