Das goldene Meer
der mit ihm Wache hatte, hockte sich auf einen Klappstuhl und gähnte laut. »Hast du das auch gesehen?« fragte er.
»Was?«
»Stellinger mit dem Vietnam-Mädchen. Lag mit ihm im Liegestuhl neben der neuen Küche.«
»Na und?«
»Nichts.« Kroll grinste breit. »Juck ist schlimmer als Heimweh.«
»Arschloch!«
»Danke. Ohne das wäre ich übel dran.«
Kaum hatte Büchler die Brücke verlassen, ging er zum nächsten Telefon und rief Julia an. Sie war in ihrer Kabine.
»Mein Liebling …«, sagte Büchler zärtlich.
»Oh, Go! Wo bist du?«
»Auf dem Weg zu dir.«
»Heute geht es nicht, Schatz. Und morgen auch nicht.«
»Warum?« Das klang forschend und drängend.
»Überleg mal, Go! Womit schlägt sich eine Frau alle vier Wochen herum?«
»Ach so.« Büchler war beruhigt. Seine Eifersucht legte sich wieder. »Schlaf gut, Kätzchen. Hab einen schönen Traum.«
»Du auch, Go.«
»Ich liebe dich.«
»Vergiß es nie.« Sie schmatzte einen Kuß ins Telefon und legte auf.
Ein paar Minuten später klingelte das Telefon erneut. »Meine Honigbiene«, sagte eine bekannte Stimme. Es gab nur einen, der so übertrieben sprach.
»Wil!« Julia rieb die Fußsohlen gegeneinander. »Was ist los?«
»Ich habe die nächste Wache. Wir haben fast vier Stunden Zeit, Zeit für uns. Ich bin gleich bei dir. Mach dich schon frei, wie wir Ärzte sagen.« Sein Lachen trommelte im Telefon. »Ich bin heute in Hochform.«
»Ich nicht. Heute nicht und morgen nicht. Leider, Wil. Tut mir leid. Du in Hochform, das muß ein Erlebnis sein! Aber es geht nicht, Schatz.«
Dr. Starke verstand sofort. Seine Stimme verlor den Elan. »Welcher Tag?« fragte er dennoch.
»Der zweite, Wil.«
»Also, holen wir etwas Atem. Schlaf gut, Kätzchen. Träum von mir.«
»Das tue ich jede Nacht.« Auch diesmal schmatzte sie einen Kuß ins Telefon und warf dann den Hörer auf die Gabel. Jetzt war Ruhe. Nötige Ruhe. Zwei Tage Kräftesammeln. Welch eine gute Idee, sich hinter einer nicht vorhandenen Menstruation zu verstecken. Diese Lüge konnte kein Mann beweisen, ihm blieb nur der Glauben. Und wenn die Tage wirklich kamen, sagte man einfach: »Schrecklich. Die Luftveränderung, das Klima, der Streß.« Und auch das würde jeder glauben. Gelobt sei die medizinische Ausbildung!
Julia dehnte sich wohlig in ihrer Nacktheit auf dem Bett, knipste das Licht aus und schlief tatsächlich nach wenigen Minuten ein.
Anneliese hatte sich im Unterdeck, Lager II, neben der Treppe mit angezogenen Beinen auf den Boden gesetzt und an die Wand gelehnt. Von der Decke gaben zwei schwache Glühlampen eine trübe Helligkeit, die gerade ausreichte, um den Weg zu den Toiletten zu finden, einfache Plumps-Klos, eine Holzkiste mit einem Loch darin. Es war heiß hier unter Deck, die Lüftung war wohl hörbar, die Ventilatoren saugten ab und bliesen hinein, aber die Ausdünstungen der Menschen waren stärker. An Leinen, quer durch den Raum gespannt, hing Wäsche. Oder die Stricke ersetzten Haken und Schrank – was man gerettet hatte, den letzten Besitz, hängte man an die Leinen. Die meisten schliefen schon, als Anneliese ihren Posten bezog. Das Atmen fiel ihr in den ersten Minuten schwer, die dicke, heiße, schweißdurchtränkte Luft schien an ihrem Gaumen zu kleben. Anneliese ärgerte sich, daß sie kein Fläschchen Kölnisch Wasser mitgenommen hatte, um damit ein Taschentuch zu beträufeln. Aber nach einigen Minuten ließ der Kampf mit der Luft nach, sie atmete unbeschwert durch. Die Lunge hatte sich an das Gemisch der Gerüche gewöhnt.
Der Mann mit dem Magen-Ca lag etwa vier Meter von ihr entfernt an der Steuerbordwand auf seiner Decke. Neben ihm hockte, wie Pitz berichtet hatte, die junge Frau, die Ut hieß. Ihre drei Kinder lagen hinter ihr und schliefen, zusammengerollt wie drei kleine Hunde.
Was erwarte ich eigentlich, dachte Anneliese. Warum sitze ich hier? Ist es nicht hirnverbrannt zu warten, ob der Kranke Schmerzen bekommt? Er ist ein medizinisches Phänomen, weiter nichts. Oder Metastasen haben die Schmerzleitung bereits abgedrückt – das gibt es, wenn auch selten. Freds Idee und Hoffnung, hinter ein Geheimnis zu kommen, ist absurd. Verzeih mir Fred …
Die Zeit verrann. Die Luft wurde noch dicker. Auch Ut schien jetzt zu schlafen, im Sitzen, ihr Kopf war nach vorn gesunken, in dieser Haltung erinnerte sie Anneliese an ein Foto, das sie vor Jahren in einer Illustrierten gesehen hatte: Eine mumifizierte weibliche Leiche.
Anneliese schreckte auf. Sie war
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