Das goldene Meer
sollte Ut vor Hung Angst haben? Er ist ein dicker, freundlicher Mann.«
»So stellt er sich gern dar.«
»Was wissen Sie über Hung?«
»Er sieht in Ut eine Hexe.«
»Im Mittelalter hätte man sie bei uns verbrannt, das ist nicht zu leugnen.«
»Wir leben in einem anderen Jahrhundert, Frau Doktor.«
»Aber vielleicht Hung nicht? Er trägt zwar moderne Anzüge, spricht Englisch und Deutsch und Französisch, aber er kann deswegen doch noch an Hexen glauben. Sogar in Deutschland haben wir Tausende mit einem Hexenglauben, sie haben Vereine gegründet, Zirkel, Geheimbünde und halten Schwarze Messen ab mit Beschwörungen und Teufelskult. Sie opfern dem Satan und fallen bei ihren Ritualen in Verzückung. Sie und ich können das nicht verstehen, aber die Hexenmeister und die Hexen sind unter uns und sehen im täglichen Leben so normal aus wie wir. Kein Teufelsmal, kein Hinkefuß, kein Schwefelgeruch. Sie sind Kaufleute oder Handwerker, Juristen oder Buchhalter, Künstler oder biedere Geschäftsleute, sie kommen aus allen Schichten und haben einen guten Ruf, haben Freundinnen und Freunde, sitzen am Stammtisch, lassen die Kegelkugel rollen, spielen Billard oder Skat, nichts, gar nichts unterscheidet sie von den anderen Menschen. Aber dann, an einem bestimmten Abend, kommen sie in ihrem Clublokal zusammen, meistens die Wohnung eines wohlhabenden Mitglieds, und zelebrieren ihren Satanskult, oft bis zur Ekstase.«
»Aber sie morden nicht.«
»Auch das ist schon vorgekommen, Xuong.« Anneliese sah ihn mit einem langen, fragenden Blick an. »Will Hung etwa Ut umbringen?«
»Sie fürchtet sich vor ihm«, antwortete Xuong vorsichtig. »Bei Wahnideen ist alles möglich. Sie haben es gerade selbst gesagt. Warum haben Sie Ut zu sich genommen?«
»Eben weil sie Angst hatte. Nur ahnte keiner von uns, vor wem sie sich verkroch. Wir werden Hung beobachten.«
»Er wird wie immer der fette, nette, hilfsbereite, lächelnde Le Quang Hung sein, der dem großen Glück in Singapur in die Arme gelaufen ist, indem er sich bei Ihrem Komitee als Dolmetscher bewarb. Er wird natürlich alles leugnen! Haben Sie Beweise gegen ihn? Nur Uts Angst. Ist das ein Beweis? Und was kann ich aussagen? Nur Vermutungen. Ich habe sicherlich eine scheußliche Tat verhindert, aber kann ich es beweisen? Es gibt keine Zeugen, nur die Kinder. Aber wer glaubt denn Kindern?«
»Was ist mit den Kindern?« Anneliese blickte hinüber zum Bett. Ut und die Kleinen saßen noch nebeneinander, eingewickelt in die Badelaken. »Ut wollte nur im Hospital bleiben, wenn sofort die Kinder geholt würden.«
»Hung wollte sie mit den Kindern erpressen, wieder unter Deck zu kommen. Er hätte sie vielleicht sogar über Bord geworfen.«
»Was sagen Sie da, Xuong?! Hung? Niemals! Er ist doch keine Bestie!«
»Er lebt in dem Wahn, Hexen vernichten zu müssen. Hexen und ihre Brut, wie er sich ausdrückt. Das ist der andere Hung. Der, den Sie kennen, hat damit nichts zu tun. Das sind zwei verschiedene Wesen in einem dicken Körper.«
»Ich werde Dr. Herbergh alles erzählen, Xuong. Sie werden es ihm auch noch mal sagen. In Manila kündigen wir Hung und schaffen ihn von Bord. Wir werden schon einen anderen Dolmetscher finden.« Sie sah Ut wieder an, die ihr dankbar zulächelte. Ngoc hatte sie gefragt, ganz leise, nur für sie verständlich, und dabei mit dem Finger auf Anneliese gezeigt: »Ist das ein Engel, Mama?« Und Ut hatte ebenso leise geantwortet: »So etwas Ähnliches, Ngoc. Wenn wir allein sind, werden wir für sie beten.«
»Wann wird das Abendessen ausgeteilt?« fragte Anneliese.
»In einer Stunde, Frau Doktor.«
»Bis dahin müssen wir Thuy finden.«
»Wenn es Essen gibt, weiß ich, wo man ihn suchen kann. Aber ob er wieder ins Hospital kommt, freiwillig?«
»Überreden Sie ihn. Sie schaffen das, Xuong. Er kann doch die schrecklichen Schmerzen nicht aushalten, und wir –« sie hob hilflos die Schultern – »wir können ihn nur mit Morphium vollpumpen, und das hält sein Herz nicht lange aus. Auch wenn er noch auf dem Schiff sterben wird, dann soll er wenigstens schmerzfrei sterben. Außerdem wollen wir uns mit dem Phänomen Ut beschäftigen.«
»Das kann man nicht erklären. Man muß das Wunder hinnehmen.«
Anneliese nickte Ut und den Kindern zu und verließ mit Xuong die Kabine. Sofort sprang Ut vom Bett hoch, rannte zur Tür und verriegelte sie. Auf dem Flur zeigte Xuong mit dem Daumen über seine Schulter.
»Sie hat abgeschlossen.«
»Ein braves Mädchen.
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