Das goldene Meer
halten wollten. Auf selbstgebastelten Saiteninstrumenten und Handtrommeln übten die Musiker unter den Flüchtlingen bereits fleißig die Trauermusik. Seit drei Stunden hallten die monotonen Weisen über Deck, ein Zirpen, Streicheln und Trommeln, das nur für das Ohr der Vietnamesen wie eine Harmonie klang. Die Frauen hatten begonnen, aus Toilettenpapier kunstvolle große Blumen zu falten, die sie dann auf einem Faden zu einer langen Girlande reihten. Die beiden Sprecher des Parlaments hatten deswegen bei Chief Kranzenberger vorgesprochen, ihm die Idee eines großen Begräbnisses geschildert – wobei wieder Hung dolmetschte, froh, für diese Zeit den Augen Xuongs entronnen zu sein – und erhielten von ihm Kordel, Draht, Bindfäden und sogar vier Scheren.
»Morgen früh sind die Scheren wieder bei mir!« hatte der Chief gesagt. »Wenn ich euch nachlaufen und sie suchen muß, wird euch der Teufel holen – nämlich ich!«
Hung übersetzte es wörtlich. Die beiden Vietnamesen grinsten breit, versicherten, nichts gehe verloren oder verschwinde, bedankten sich mit einigen tiefen Verbeugungen und zogen mit dem Material ab. Ein anderer Vietnamese hatte es übernommen, mit Hans-Peter Winter zu verhandeln, er sprach französisch, weil er gehört hatte, der Koch beherrsche diese Sprache. Ein paarmal hatte man seinen Streit mit Stellinger beobachtet, wobei solche Sätze fielen wie: »Was verlangst du Banause eigentlich?! Soll ich dir vielleicht ein Omelette aux truffes machen? Oder ein Rognons de veau sauté? Vielleicht ein schönes Civet de lièvre? Und zum Nachtisch eine Meringue glacée? Einen Bohneneintopf kriegst du! Und denk dir dabei, es sei Cassoulet Ariégeois.«
Der Vietnamese gab sich alle Mühe zu erklären, was Toilettenpapier ist.
Trotzdem dauerte es eine geraume Zeit, bis man sich endlich verstand, und auch dann nur, weil der Vietnamese verzweifelt nach einem Stück Papier griff, eine alte herumliegende Zeitung, sie in kleine Stücke zerriß und sich damit über den Hintern wischte.
Mit zehn Rollen zog er dann glücklich ab. Eine lange Blumenkette war damit gesichert.
Thuy zuckte zusammen, als Xuong ihm die Hand auf die Schulter legte. Er stützte sich schwer auf seine neue Krücke und krümmte sich nach vorn. Die Eßschüssel zitterte in seiner Hand.
»Komm mit ins Hospital«, sagte Xuong.
Thuy schüttelte den Kopf. »Erst essen, Lehrer. Ich habe Hunger, solchen Hunger.«
»Du kannst im Hospital essen.«
»Dort nehmen sie mir das Essen weg.«
»Ich verspreche: Keiner nimmt es dir weg.«
»Ich will nicht ins Hospital!« sagte Thuy trotzig.
»Und wenn die Schmerzen wiederkommen?«
»Sie kommen nicht, Lehrer.«
»Lüg nicht. Sie kommen dreimal am Tag, immer nach dem Essen.«
»Ich kann sie ertragen.«
»Weil Ut dir dabei hilft.«
Thuys Hand zitterte stärker. Mit seinen schon gelben Augäpfeln starrte er Xuong entsetzt an. Über sein faltiges Ledergesicht flog ein nervöses Zucken. »Es … es war nur einmal, Lehrer. Die weißen Ärzte wollten es sehen. Sie werden mich wieder in ein Bett legen, untersuchen, meinen Magen drücken, mich unter ein Gerät schieben, mit dem sie in meinen Leib hineinschauen können, mir irgend etwas in die Adern träufeln, aus großen Flaschen, die über meinem Kopf hängen. Ich will das nicht. Ich will mich nicht hinlegen. Ich will herumlaufen, die Sonne sehen, im Wind stehen, das Meer beobachten, nur das ist Medizin für mich.«
Xuong hörte mit Verwunderung, daß Thuy noch zu solchen langen Sätzen fähig war, und was er sagte, war klug. Wer konnte ihm noch helfen? Kein Arzt war mehr dazu in der Lage. Thuys Schicksal war es, auf den Tod zu warten, in der Sonne und im Anblick des Meeres, das er als Fischer lieben und hassen gelernt hatte.
Xuong trat nahe an Thuy heran und bog sich zu ihm vor.
»Ut wartet auf dich im Hospital«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Sie bleibt dort, bis wir den letzten Hafen anlaufen. Sie wird nicht mehr zu dir kommen können, du mußt zu ihr gehen.«
Thuy nickte stumm. Auf seine Krücke gestützt, humpelte er schwankend in der Reihe weiter, hielt an der Ausgabe seine Schüssel hin, und Kim füllte sie mit Nudeln und den drei Fleischstückchen. Mit einem Plumps fiel die Schüssel aus Thuys Hand, schlug auf den Tisch auf und wäre umgefallen, wenn Kim nicht schnell zugegriffen hätte.
»Ich kann sie nicht mehr halten«, klagte Thuy weinerlich. »Sie ist zu schwer für mich.«
»Setz dich nebenan auf den Stuhl.« Kim führte Thuy zu einem
Weitere Kostenlose Bücher