Das goldene Ufer
Jemand, der diese Personenbeschreibung las, würde ihn gewiss nicht mit dem gesuchten Raubmörder Walther Fichtner in Verbindung bringen.
Interessiert sah er sich nun auch Giselas angebliches Bild an und las ihre Beschreibung. Dabei kam er aus dem Kopfschütteln nicht heraus. »Gisela Fichtner, geborene Fürnagl, ist für eine Frau eher klein gewachsen, hat eine stämmige Figur und ein rundliches Gesicht. Ihr Blick ist stechend, ihre Haarfarbe dunkelbraun und ihr Aussehen gewöhnlich. Besondere Kennzeichen: keine!«
Wer die Bilder gezeichnet und diese Personenbeschreibungen verfasst hatte, konnte Walther nicht sagen. Sicher hatte derjenige sich an die Aussagen der Leute auf Renitz, insbesondere an die Angaben der Gräfin, gehalten. Deren Abneigung gegen ihn und Gisela hatte Diebolds Mutter offenbar dazu getrieben, ihnen neben einem schlechten Charakter auch ein übles Aussehen anzudichten. Damit aber hatte sie ihrem Wunsch nach Vergeltung für den Tod des Sohnes einen Bärendienst erwiesen.
Schritte, die sich draußen näherten, brachten ihn dazu, rasch beiseitezutreten und so zu tun, als betrachte er die Bilder des Alten Fritz und dessen regierenden Großneffen.
Zu Walthers Erleichterung trat nur der Beamte ein. Er hielt ein sauberes, gestempeltes Blatt in der Hand und reichte es Walther mit geschäftsmäßigem Gesichtsausdruck. »Könnten Sie so gut sein und die Angaben in diesem Pass kontrollieren?«
»Gerne!« Walther begann zu lesen und musste an sich halten, um nicht lauthals zu lachen. Der Pass lautete auf Dr. Walter Artschwager, geboren am 28. September 1801 in Berlin. Wie es aussah, hatte der Beamte seinen Geburtsmonat nicht richtig lesen können und statt des Dezembers den September eingesetzt. Oder war dies eine Falle? Diese Möglichkeit durfte er nicht außer Acht lassen. Ein Blick auf die Miene des Herrn, der seinem Aussehen nach wieder an die gewohnte Arbeit gehen wollte, brachte ihn dazu, das Risiko einzugehen.
»Die Angaben sind richtig. Es fehlt nur noch der Zusatz, dass ich zusammen mit meiner Gattin reise.«
»Das hätten Sie schon vorhin sagen können!«, sagte der Beamte verärgert, bequemte sich dann aber, sich an seinen Tisch zu setzen und diesen Zusatz nachzutragen. Nachdem er die Tinte mit Sand getrocknet hatte, überreichte er Walther das Dokument.
»Damit ist dieser Pass für Sie und Ihre Frau Gemahlin voll gültig. Da die Postkutschenlinie versprochen hat, Ihnen alle Auslagen zu ersetzen, werden wir die Gebühr für die Ausstellung dieses Dokuments dort einfordern. Ihnen wünsche ich eine angenehme Reise, Herr Doktor!«
»Danke ergebenst!« Walther steckte den Pass ein und verabschiedete sich. Als er die Preußische Vertretung verließ, dachte er über die Zufälle des Lebens nach, die ihn nun offiziell zu einem Sohn der Stadt Berlin gemacht hatten. Er hatte diese Stadt bereits in seinem gefälschten Pass angegeben, um nicht mit Renitz in Verbindung gebracht zu werden. Nun besaß er ein voll gültiges Dokument, das all seine Angaben einschließlich des falschen Nachnamens bestätigte. Über das fehlende H in seinem Vornamen konnte er hinwegsehen. Es einfügen zu lassen hätte seinen Gesprächspartner höchstens an jenen frischen Steckbrief erinnern können.
Mit einem zufriedenen Lächeln holte er den Knecht des Posthalters aus der Schenke und folgte ihm zur Poststation. Als er die Kammer betrat, die Gisela und ihm zur Verfügung gestellt worden war, eilte seine Frau ihm entgegen.
»Gott sei Dank! Ich habe solche Ängste ausgestanden.«
»Weshalb denn, mein Schatz? Es ist alles bestens gelaufen. Der Herr, der mich empfangen hat, hat sich vor Hilfsbereitschaft schier überschlagen. Auf jeden Fall können wir morgen unsere Reise fortsetzen, ohne befürchten zu müssen, dass uns irgendein übereifriger Grenzbeamter wegen des alten, unleserlichen Passes festhält.«
Seine mit fester Stimme vorgetragenen Worte beruhigten Gisela. Sie erinnerte sich daran, dass sie Äußerungen vermeiden musste, die sie und Walther verdächtig machen konnten, und schloss ihren Mann stumm in die Arme.
»Vielleicht könnten wir heute Abend …« Sie schämte sich, weil sie sich ihm direkt anbot, doch ihre Gefühle drängten sie dazu, mehr mit ihm zu teilen als nur die Nachtruhe.
Obwohl Walthers Rippen und der verlängerte Rücken immer noch bei jeder Bewegung schmerzten, drückte er Gisela an sich und strich ihr übers Haar. »Dagegen habe ich wirklich nichts, mein Schatz. Doch lass uns vorher in die
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