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Das goldene Ufer

Das goldene Ufer

Titel: Das goldene Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Renitz, der zumindest so lange, wie er sich gegen seine Frau hatte durchsetzen können, sein Wohltäter gewesen war. Einen Sohn wie Diebold hatte dieser Mann wirklich nicht verdient. Manchmal zuckte es ihm in den Fingern, Graf Renitz einen Brief zu schreiben und ihm zu erklären, was tatsächlich im Forsthaus geschehen war. Er unterließ es jedoch, denn zum einen wollte er den alten Herrn nicht zusätzlich betrüben, indem er dessen Sohn als Frauenschänder beschuldigte, und zum anderen nahm er an, dass Gräfin Elfreda den Brief unterschlagen würde. Auch wollte er nicht, dass die Frau begriff, wohin Gisela und er fliehen wollten. Bei der Affenliebe, mit der sie an ihrem Sohn gehangen hatte, traute er ihr zu, ihm einen Rächer bis in die Neue Welt nachzuschicken.
    »Ich würde einen Groschen dafür geben, wenn ich deine Gedanken erraten könnte«, sagte Gisela, als sie wieder in der Postkutsche saßen, eingezwängt zwischen einem baumlangen Franzosen und einer enorm dicken Frau, die beide nach frischem Knoblauch und gebratenen Zwiebeln rochen.
    »Ich glaube nicht, dass sie so viel wert wären«, gab Walther mit einem Lächeln zurück. Er wollte ihr nicht sagen, dass er wieder einmal an Gräfin Elfreda und Renitz gedacht hatte, um ihr das Herz nicht schwer zu machen. »Aber wenn du es genau wissen willst: Ich habe versucht, mir unsere neue Heimat jenseits des Ozeans vorzustellen. Dort werden wir glücklich sein und unsere Kinder aufziehen.«
    Bei dem Wort Kinder zuckte Gisela zusammen. Ahnte Walther etwas? Hatte Luise Frähmke oder Cäcilie ihm möglicherweise verraten, dass sie schwanger war, und er wartete darauf, dass sie ihn endlich einweihte? Bei dem Gedanken an die beiden Freundinnen, die sie nie mehr wiedersehen würde, kamen ihr die Tränen. Noch schlimmer erschien es ihr, dass die beiden sie ebenso wie alle anderen auf Renitz für die Mörder des jungen Renitz halten mussten.
    »Was ist mit dir?«, fragte Walther besorgt.
    »Nichts! Nur eine Laune, wie sie uns Frauen gelegentlich überkommt«, redete Gisela sich heraus, weil sie ihn nicht an Renitz und das Schreckliche, das dort gesehen war, erinnern wollte. Um sich abzulenken, schaute sie durch das Fenster im Schlag. »Wann erreichen wir die nächste Poststation? Es wird schon dunkel!«
    »Es ist in den letzten Minuten tatsächlich arg düster geworden.« Walther zog seine Taschenuhr heraus. Die Zeiger standen auf Viertel nach drei, und das war selbst um diese Jahreszeit viel zu früh für den Einbruch der Nacht. Verwundert steckte er den Kopf aus dem Kutschenschlag hinaus und sah dunkle Wolken geballt am Himmel ziehen. Zugleich fühlte er einen kalten Windstoß und konnte in der Ferne Wetterleuchten erkennen.
    »Es zieht ein Gewitter auf«, sagte er, als er wieder zwischen Gisela und dem baumlangen Franzosen Platz nahm.
    »Dann hoffe ich, dass wir bald die nächste Poststation erreichen!« Der Gedanke, ein Gewitter in der Postkutsche durchstehen zu müssen, erschreckte Gisela, und sie faltete die Hände, um die Heilige Jungfrau um Schutz anzuflehen.
    Walther lehnte sich zurück, während die anderen Fahrgäste ebenfalls auf das kommende Unwetter aufmerksam wurden und sich mit besorgten Mienen unterhielten. Einer klopfte sogar gegen das Dach und rief dem Postillion etwas zu. Dieser antwortete mit einer Bemerkung, die Walther zwar nicht verstand, anhand des Tonfalls aber als Fluch interpretierte. Danach trieb der Mann die Pferde derart an, dass die Kutsche wie ein Betrunkener hin und her schwankte.
    »Hoffentlich gibt es nicht schon wieder ein Unglück!«, rief Gisela, die sich mit Schaudern an den Augenblick erinnerte, in dem die Kutsche hinter Kassel umgekippt war und Walther beinahe erschlagen hätte.
    »Mal den Teufel nicht an die Wand!«, antwortete ihr Ehemann und versuchte zu grinsen. »Wenn die Kutsche nach links umkippt, fällst du weich, und wenn sie es nach rechts tut, fällst du gegen mich, und ich halte dich fest.«
    Gisela funkelte ihn zornig an. »Mit so etwas macht man keine Scherze!«
    Die Antwort riss Walther der erste, ungewöhnlich harte Donnerschlag von den Lippen. Erschreckt klammerte Gisela sich an ihn. Die anderen Frauen in der Kutsche zuckten ebenfalls zusammen und begannen leise zu beten. Und auch die Männer sahen so aus, als wünschten sie sich an jeden anderen Ort der Welt.
    Draußen wurde es so dunkel wie in einer Neumondnacht, und in der Kutsche herrschte eine ägyptische Finsternis. Nur die Blitze, die in immer schnellerer

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