Das Gottesgrab
jeden gefragt. Sie sind ihre letzte Hoffnung.»
Nicolas stand auf und wandte sich ab. Gespräche über Krankheiten waren ihm immer unangenehm. Die Bücher, die Ibrahim für Gaille herausgesucht hatte, lagen auf der Ecke des Schreibtisches. Er nahm eines und blätterte müßig durch die Seiten.
«Ich könnte natürlich herumfragen», sagte Ibrahim. «Aber im Krankenhaus kenne ich niemanden.»
«Ich flehe Sie an. Sie müssen etwas tun.»
Das Buch war voller Schwarz-Weiß-Skizzen. Eine stellte einen Hügel und einen See namens Bir Al Hammam dar. Irgendwie kam Nicolas der Anblick bekannt vor. Er legte das Buch zurück und nahm ein anderes. Auch in diesem war ein Bild von Bir Al Hammam, dieses Mal ein Foto. Er starrte es lange an, und als ihm schließlich klar wurde, warum ihm der Anblick vertraut war, durchzuckte ihn ein herrlicher orgiastischer Schauer.
«Nicolas? Nicolas?», fragte Ibrahim besorgt. «Ist alles in Ordnung?»
Nicolas kam wieder zu Sinnen. Ibrahim sah ihn merkwürdig an. Nicolas lächelte. «Verzeihen Sie», sagte er. «Ich war nur gerade ganz woanders.» Als er sich umschaute, sah er, dass Mohammed verschwunden war. «Wo ist denn Ihr Freund?», fragte er.
«Er musste gehen», sagte Ibrahim. «Seine Frau ist offenbar in einem schrecklichen Zustand. Ich hatte versprochen, mein Möglichstes zu tun. Aber was kann ich jetzt noch machen? Das arme Mädchen.»
Nicolas runzelte nachdenklich die Stirn. «Wenn ich ihr helfen könnte, wären Sie dankbar, nicht wahr?»
«Natürlich», sagte Ibrahim. «Aber ich weiß wirklich nicht …»
«Gut», sagte Nicolas und klemmte sich Gailles Bücher unter den Arm. «Dann kommen Sie mit mir. Schauen wir mal, was wir tun können.»
KAPITEL 29
I
Das Orakel von Amun erwies sich als Steinhaufen ungefähr vier Kilometer außerhalb von Siwa. Trotz seines einstigen Ruhms gab es weder einen Parkplatz noch Gewerbestände oder eine Eintrittsgebühr. Als Gaille, Elena und die beiden Führer früh am nächsten Morgen dort ankamen, waren sie fast allein. Nur ein verhutzelter alter Mann saß vor einer Mauer gegenüber der antiken Stätte und streckte in der Hoffnung auf Almosen eine zitternde Hand aus. Gaille griff nach ihrem Portemonnaie. «Damit ermutigen Sie die Bettler nur», warnte Elena. Gaille zögerte, gab ihm dann aber trotzdem einen Schein. Er lächelte dankbar. Zwei junge Mädchen mit geflochtenen, hüftlangen schwarzen Haaren kamen auf sie zu und boten selbst gemachte Armbänder an, die sie am Unterarm trugen. Ein finsterer Blick von Zayn genügte, und sie liefen kichernd davon.
Anfangs hatte Gaille nicht gewusst, was sie von Mustafa und Zayn halten sollte. Doch schnell wurden sie ihr sympathisch. Das Wissen der beiden Männer über Siwa war beeindruckend. Und ihre Freundschaft hatte etwas Rührendes. Die alte Tradition der homosexuellen Ehe war in Siwa noch weit verbreitet, regionale Lieder und Gedichte priesen solche Beziehungen noch immer. Sie konnte sich nur wundern.
Mustafa war ein bulliger Mann mit lederner Haut. Wie hellere Streifen an seinem Hals und unter dem Armband seiner Uhr zeigten, hatte sich seine Haut durch die Sonne noch dunkler gefärbt, als sie es schon von Natur aus war. Obwohl er unablässig rauchte, war er erstaunlich fit und flink. Er hatte eine spezielle Beziehung zu seinem alten und eigenwilligen Lastwagen. Keine der Anzeigen oder Armaturen funktionierte noch, und jede Verzierung war längst verschwunden, vom Schaltknüppel bis zum Gummi der Pedale und den Matten darunter.
Zayn war ein dürrer Kerl und kaum älter als vierzig, obwohl sein Haar und sein Bart mit silbrigen Strähnen durchzogen waren. Während Mustafa fuhr, ölte und polierte Zayn wie besessen ein Messer mit schmaler Klinge und Elfenbeingriff, das er zusammengeklappt unter seinem Gewand trug. Jedes Mal, wenn er es wegsteckte, schabte die glatte, funkelnde Klinge gegen die Scheide, sodass sie sofort wieder geputzt werden musste und er das Messer herauszog und begutachtete, wobei er unverständliche Schimpfwörter murmelte.
Eine steile, geschwungene Treppe unter einem Türsturz führte hinauf in das Hauptgebäude des Orakels, ein Gerippe aus Wänden, das einem Holzschiff glich, welches im Watt gestrandet und später ausgetrocknet war. Gaille blieb einen Moment lang ehrfürchtig stehen. Es gab nicht viele Orte auf der Welt, an denen man sicher sein konnte, dass Alexander einmal genau an der Stelle gestanden hatte, wo man nun selbst stand. Dieser Ort war einer davon. Zu
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