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Das Gottesgrab

Das Gottesgrab

Titel: Das Gottesgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Adams
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Dies war ihr erster Abend, und bisher verlief alles gut. Die Atmosphäre, sie war entscheidend. Deshalb hatten sie diese alte Kirche gewählt, auch wenn es kein offizieller Gottesdienst war. Durch die Rauchglasfenster schien der Mond. Auf den Dachsparren saß ein Vogel. Dicke Türen schotteten die Außenwelt ab. Weihrauch zog in die Nasen und überdeckte den Geruch von ehrlichem Schweiß. Die einzige Lichtquelle war eine Reihe dicker weißer Kerzen. In der Kirche war es gerade noch so hell, dass die Gemeindemitglieder diese Verse in ihren eigenen Bibeln nachlesen konnten. Sie sollten sich vergewissern, dass sie tatsächlich aus dem achten Kapitel des Buches Daniel stammten, wie der Priester ihnen versichert hatte. Andererseits war es noch dunkel genug, dass eine mystische Atmosphäre bewahrt blieb. In diesem Teil der Welt wussten die Menschen, dass das Leben unergründlicher und komplexer war, als es ihnen die moderne Wissenschaft weismachen wollte. Wie Nicolas glaubten sie an das Heilige und Übersinnliche.
    Sein Blick schweifte über die Kirchenbänke. Diese ausgezehrten Menschen. Menschen mit einem harten Leben, die frühzeitig alterten, die mit vierzehn zu schuften begannen, mit sechzehn Eltern wurden, mit fünfunddreißig Großeltern. Nur wenige wurden älter als fünfzig. Unrasierte, von harter Arbeit gezeichnete Gesichter, verbittert durch Enttäuschung, mit dunkler, lederner Haut von zu viel Sonnenlicht und schwieligen Händen vom endlosen Kampf gegen den Hunger. Außerdem waren sie zornig, in ihnen brodelte der Groll gegen ihre Armut und die als Strafe empfundene Steuer, die sie von jedem Verdienst abgeben mussten. Zorn war gut. Er machte sie empfänglich für zornige Gedanken.
    Der Priester richtete sich wieder auf, straffte seine Schultern und las weiter vor: «Das Horn des Ziegenbocks brach ab und vier andere traten an seine Stelle; das bedeutet: Aus seinem Volk entstehen vier Reiche; sie haben aber nicht die gleiche Kraft wie er.» Er betrachtete seine Gemeinde mit den leicht manischen blauen Augen eines Wahnsinnigen und eines Propheten. Nicolas hatte eine gute Wahl getroffen. «‹Das Horn brach ab›», wiederholte er. «Dieser Satz meint den Tod Alexanders. ‹Aus seinem Volk entstehen vier Reiche›. Damit ist der Zusammenbruch des makedonischen Reiches gemeint. Wie ihr alle wisst, zerbrach es durch vier Nachfolger in vier Teile: durch Ptolemäus, Antigonus, Kassandros und Seleukus. Und, erinnert euch, das wurde von Daniel fast dreihundert Jahre früher geschrieben.»
    Unruhe und Zorn reichten jedoch noch nicht, dachte Nicolas. Wo Armut herrschte, gab es immer Unruhe und Zorn, aber nicht unbedingt eine Revolution. In Makedonien hatte es zwei Jahrtausende Unruhe und Zorn gegeben, da erst die Römer, dann die Byzantiner und die Ottomanen sein Volk unterdrückt hatten. Und jedes Mal, wenn es sich von einem Joch befreit hatte, wurde es in ein neues gezwungen. Vor hundert Jahren hatte die Zukunft einmal rosig ausgesehen. Der Ilindenaufstand 1903 war zwar brutal niedergeschlagen worden, aber 1912 hatten dann hunderttausend Makedonier Seite an Seite mit den Griechen, Bulgaren und Serben gekämpft, um die Türken endlich zu vertreiben. Von Rechts wegen hätte das die Geburtsstunde eines unabhängigen Makedoniens sein müssen. Doch sie waren betrogen worden. Die früheren Verbündeten hatten sich gegen sie gewendet, die so genannten großen Mächte hatten sich schändlich zusammengetan, und Makedonien war durch den erbärmlichen Vertrag von Bukarest in drei Gebiete geteilt worden. Ägäis-Makedonien war an Griechenland gefallen, Vardar-Makedonien an Serbien und Pirin-Makedonien an Bulgarien.
    « Aus einem der Hörner ging dann ein anderes Horn hervor. Anfangs klein, wuchs es gewaltig nach Süden und Osten, nach dem Ort der Zierde hin. Das kleine Horn ist Demetrios», behauptete der Priester. «Für all jene von euch, die sich nicht erinnern: Demetrios war der Sohn von Antigonus; er hatte sich selbst zum König von Makedonien erklärt, obwohl er nicht von Alexanders Blut war.»
    Der Vertrag von Bukarest! Allein die Bezeichnung verursachte Nicolas Schmerzen. Seit fast hundert Jahren hatten sich die Grenzen, die der Vertrag festgelegt hatte, kaum verändert. Und die verhassten Griechen, Serben und Bulgaren hatten alles getan, um die makedonische Geschichte, Sprache und Kultur auszulöschen. Sie hatten die Redefreiheit verboten und jeden inhaftiert, der auch nur den geringsten Widerstand leistete. Sie hatten die

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