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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Neil, es ist verantwortungslos. Daheim gibt es Menschen, denen Sie etwas
bedeuten.«
    »Meine Eltern sind tot.«
    »Und was ist mit Ihren Freunden? Ihren Verwandten?«
    »Freunde hab ich keine. Meine Tanten mögen mich nicht
leiden. Meinen Großvater habe ich bewundert, aber er ist
vor… Wann? Vor sechs Jahren ist er gestorben.«
    Der Priester pflückte gleichfalls eine Steinfeige. Er warf
sie in die Luft, fing sie auf, warf sie ein zweites Mal in die
Höhe, fing sie wieder auf. »Ich will offen zu Ihnen
sein«, sagte er nach einem Weilchen. »Ihr En Sof… Ich würde es auch gerne kennenlernen. Ehrlich.« Er
setzte den Hut zurück auf den Kopf, zog den Rand bis zu den
Augenbrauen herab. »Manchmal neige ich zu der Auffassung,
daß unsere Kirche sich einen verhängnisvollen Fehler
geleistet hat, als sie Gott Menschengestalt beimaß. Ich liebe
Christus aus aufrichtigem Herzen, aber man kann sich zu leicht eine
Vorstellung von ihm machen.«
    »Dann habe ich also Ihren Segen?«
    »Meinen Segen nicht, nein. Aber…«
    »Aber was?«
    »Wenn Ihr Gewissen es von Ihnen verlangt…«
    Seufzend streckte Pater Thomas den rechten Arm aus. Neil schlug
ein. Die beiden Männer verklammerten ihre zerschrammten Finger;
preßten die strapazierten Handteller zusammen.
    »Leben Sie wohl, Vollmatrose Weisinger. Viel Glück und
alles Gute.«
    Neil setzte sich unter den unzerstörbaren Baum. »Gott
mit Ihnen, Pater Thomas.«
    Der Priester drehte sich um und ging die Anhöhe hinunter,
hielt auf die Wogen zu, die an den Strand rauschten.
    Zwei Stunden später saß Neil noch auf demselben Fleck.
Der Abendwind kühlte ihm das Gesicht. Wie Kerzen, die hinter
reifbeschlagenen Fenstern brannten, glommen Sterne durch den Nebel.
Mondschein strahlte herab, leuchtete auf den Brechern, verwandelte
die Dünen in Berge funkelnder Edelsteine.
    Die Imbißdose in der Hand kletterte Neil auf den Baum,
erklomm ihn Ast um Ast, als ob er sich den Großmast
hinaufschwänge. Gerade als er sich in eine Astgabel schmiegte,
sprangen beiden Maschinen der Valparaíso an, ihr
Fauchen und Stampfen hallte über die Van-Horne-Insel, und wenige
Minuten darauf lief der Supertanker zur Bucht hinaus. Die
Schleppketten strafften sich, ihre Glieder schabten aneinander wie
die Weisheitszähne eines gewaltigen, an Schlaflosigkeit
leidenden Drachen. Mit voller Kraft fuhr das Schiff ab. Panik packte
den Vollmatrosen. Bis jetzt war es nicht zu spät. Er konnte noch
einen Rückzieher machen, ans Ufer rennen und zum Tanker
hinüberschreien, auf ihn zu warten. Wenn es unbedingt sein
mußte, konnte er ihm sogar nachzuschwimmen versuchen.
    Krämpfe befielen seine Magenmuskulatur. Verdauungssäfte
gurgelten in seinem Bauch. Er holte die Ben-Gurion-Medaille heraus,
rieb mit dem Daumen übers Profil des Politikers. So, und schon
fühlte er sich wohler, ja, ja sicher. Jeden Tag, jede Stunde war
zu erwarten, daß sich der Baum erwärmte, immer
stärker erwärmte, erhitzte, ihm Rauch entquoll, Flammen
herausschossen.
    Aber ohne daß er verbrannte.
    Neil Weisinger öffnete die Bugs-Bunny-Imbißdose,
entnahm ihr das mit Käse überbackene Hacksteak und
verzehrte es ganz, ganz langsam.

 
     
     

 

     
    Am 2. September um 9 Uhr 45 verließ die Karpag
Valparaíso das Meeresgebiet der Nebelbänke.
Angesichts der kraftstrotzend-lebenssprühenden Blendendklarheit
der Welt – des Schimmerns der nordatlantischen See, des
azurblauen Strahlens der Himmelswölbung, der
leuchtendweißen Federn vorüberfliegender Wolken –
weinte Pater Ockham vor Freude. So mußte dem blinden Bettler
zumute gewesen sein, als er, nachdem Christus »Dein Glaube hat
dir geholfen« gesprochen hatte, mit einem Mal zu sehen
vermochte.
    Um 10 Uhr 55 sprang Lianne Bliss’ Faxgerät an und gab
eine Mitteilung aus, die wohl, wie Thomas mutmaßte, die neueste
einer ganzen Reihe hysterischer Beschwerden aus Rom war und die sich
von den vorherigen Faxen nur durch den Vorzug unterschied, den
Empfänger erreicht zu haben. Der Vatikan wollte wissen, weshalb
Ockham die Kommunikation eingestellt hätte, wo sich das Schiff
und in welchem Zustand sich der Corpus Dei befände.
Angebrachte Fragen, berechtigte Fragen; dennoch zögerte Thomas
mit der Beantwortung. Obwohl man das plötzliche Auftauchen einer
untergegangenen Heidenzivilisation als ein Ereignis einstufen
mußte, das er schwerlich hatte vorhersehen oder hätte
verhindern können, war ihm vorausschauend klar, daß Rom
trotzdem einen Weg aushecken würde, um an allem ihm die

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