Das Gottesmahl
Schuld
zuzuschieben – am Entstehen der Van-Horne-Insel, der untragbaren
Terminüberschreitung, dem Modern des Schleppguts.
Zunächst war weder Thomas noch irgend jemand anderes an Bord
darauf aufmerksam geworden, in wie beträchtlichem Maß
mittlerweile Verfall den Leichnam zersetzte. Bei dieser
Ahnungslosigkeit blieb es bis zum 4. September, an dem der Tanker den
42. Breitengrad überquerte. Dort nämlich drehte sich der
Wind. Der Gestank übertraf jeden herkömmlichen
Verwesungsgeruch. Nachdem er sich in die Nasen und Stirnhöhlen
aller Betroffenen gefressen hatte, griffen die Ausdünstungen die
restlichen Sinne an, entpreßten den Augen der Seeleute
Tränen, brannten auf der Zunge, kribbelten auf der Haut. Einige
Mitglieder der Decksbesatzung behaupteten sogar, sie gewahrten das
fürchterliche Odeur mit den Ohren, könnten es wie
die Stimmen der Sirenen, die einst Odysseus’ Mannschaft ins
Verderben zu locken gedachten, übers Meer schallen hören.
Von da an mußten die Abordnungen, die mit dem Motorboot Juan
Fernández zum Corpus Dei hinüberfuhren, um aus
der üppigen Fäulnis noch eßbares Fleisch zu
schneiden, bei ihrer Tätigkeit Atemgeräte anlegen und aus
Sauerstoffflaschen atmen.
Ironischerweise bedeutete das Erweichen des Fleischs, daß
van Horne endlich mit den Pumpen eine Schlagader anzapfen konnte,
eine Maßnahme, jetzt nur noch auf eine klägliche Geste
hinauslief, aber Thomas verstand vollauf, wieso der Kapitän das
Bedürfnis verspürte, sie durchzuführen. Am 5.
September leiteten Charlie Horrocks und seine Pumpenraum-Mitarbeiter
die Großtransfusion ein. Zwar hatten sie noch nie während
der Fahrt Ladung an Bord gepumpt, schafften es jedoch, in weniger als
sechs Stunden rund 320.000 l Salzwasser aus den Ballasttanks ins
Meer abzulassen und unterdessen die gleiche Menge Blut in die
Frachttanks der Valparaíso zu füllen.
Und der beabsichtigte Zweck wurde erreicht. Unverzüglich
steigerte sich die Geschwindigkeit des Schiffs auf
gleichmäßige 9 Knoten, so daß es nun um ein Drittel
schneller fuhr als während der gesamten Zeit seit Beginn des
Schleppvorgangs.
Verläßlich hielten die Offiziere ihre Wachen ein.
Gewissenhaft schliff die Decksbesatzung Rost ab und bepinselte die
gesäuberten Stellen mit Farbe. Pflichttreu besorgte das
Küchenpersonal Nachschub an Corpus-Dei- Filets.Aber erst
als die Seeleute nach und nach wieder mit der gewohnten
Bärbeißigkeit an die Erledigung ihrer Aufgaben gingen, von
neuem Alltagsnörgeleien und haarsträubendes Geschimpfe die
Kajütstreppen der Valparaíso herauftönten,
wuchs Thomas’ Zuversicht, daß allmählich
Normalität auf das Schiff zurückkehrte.
»Es ist vorbei«, sagte er zu Schwester Miriam.
»Endlich ist es ausgestanden. Gott sei Dank für Immanuel
Kant.«
»Gott sei Dank für Gott«, antwortete sie patzig,
biß in ein mit Käse überbackenes Hacksteak.
Als grau und bedeckt der Tag der Arbeit herandämmerte
(für Bürger der Vereinigten Staaten der erste Montag im
September), sah der Geistliche ein, daß er nicht mehr vor sich
selbst leugnen und Rom nicht weiterhin verschweigen konnte, wie
erbärmlich Operation Jehova dem Zeitplan nachhinkte. Inzwischen
verbreitete das Schleppgut einen derartig verheerenden Gestank,
daß er sich – halb sogar im Ernst – fragte, ob dies
Anzeichen des Fehlschlags schon ostwärts übers Meer und bis
zu den Toren des Vatikans geweht worden sein mochte. Er schickte ein
ehrliches Fax mit Erwähnung aller Einzelheiten ab. Sie
befänden sich zweitausend Seemeilen vom Polarkreis entfernt. Das
Schiff wäre auf einer kartografisch unerfaßten Insel
(37°N, 16°W) des Golfs von Cádiz gestrandet und
hätte sechsundzwanzig Tage lang auf einem Rostberg festgelegen.
In dieser Zeitspanne wäre nicht nur der unterm Eindruck des Corpus Dei aufgekommene ethische Relativismus in völliges
Chaos gemündet, sondern müßten ohne Zweifel auch
körperliche Zersetzung und neurale Desorganisation den Corpus befallen haben. Seitdem hätten zwar Kants kategorischer
Imperativ die Wiederherstellung der Ordnung gewährleistet und
die auf Veranlassung des Kapitäns vorgenommene Transfusion die
Geschwindigkeit erheblich erhöht, aber diese günstige Wende
könnte den durch die Verzögerung auf der Insel entstandenen
Schaden nicht mehr wettmachen. Nur in bezug auf die Hungersnot
unterwarf sich der Pater einer Selbstzensur und verschwieg die
Ursache der Rettung. Er hatte das Gefühl, daß Papst
Innozenz XIV. noch nicht reif war für
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