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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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durch, fraß sich wie
eine unersättliche arktische Motte durch alle Schutzschichten.
Das Außenthermometer der Steuerbord-Brückennock stand auf
-22°, und dabei blieb die Kälte des Winds noch
unberücksichtigt.
    Sie setzte das Fernglas an die Augen, stellte es scharf und
betrachtete die mit Glitzerreif überzogene Nase. Dahinter
flimmerte ein endloser Strom aufgeladener Sonnenwindpartikel,
zahllose Elektronen und Neutronen schwirrten ins Magnetfeld der Erde
und kollidierten mit verdünnten atmosphärischen Gasen. Die
Aurora, die dabei entstand, erfüllte den gesamten Nordhimmel:
ein leuchtend-blau-grünes Banner, das in unheimlicher
Lautlosigkeit überm Rollen der Wogen und dem stumm
dahintreibenden Packeis wallte.
    Was sie an Anthony van Horne am stärksten bewunderte, die
Tatsache, die ihm in ihrem Gemüt längst zu ständiger
Präsenz verhalf – der Grund, weshalb sie ständig an ihn dachte –, war seine Versessenheit. Endlich einmal
hatte sie jemanden kennengelernt, der genauso unbeugsam war wie sie.
Frau beachte nur die Schlaglichter dieser Ozean-Odyssee: Anthony
erlegt mittels Rakete einen Tigerhai; erstickt eine Meuterei durch
abgepackten Imbiß; bringt seine Besatzung dahin, einen Berg
abzutragen. So wie Cassie vor nichts zurückschräke, um Gott
zu vernichten, scheute der Kapitän absolut nichts, um wenigstens
seine Überreste zu retten. Zwischen ihnen beiden hatte sich
stillschweigend ein sonderbares, wahrhaft inniges, beinahe erotisches
Band geflochten.
    Natürlich stellte sich die Frage, ob mit Olivers
bewundernswürdig ersonnenem Eingreifen noch gerechnet werden
durfte. Der Verstand legte die Schlußfolgerung nahe, daß
die schwachen Beziehungen der Philosophischen Liga für moderne
Aufklärung e. V. zur Zweiter-Weltkrieg-
Militärdrama-Gruppe während des langen Festsitzens der Valparaíso auf der Van-Horne-Insel eingeschlafen sein
mußten. Aber Cassie kannte Oliver. Sie wußte darüber
Bescheid, welche schrankenlose, aufopferungsvolle, beharrliche
Ergebenheit er ihr entgegenbrachte. Je länger sie nachsann, um
so mehr vertiefte sich ihre Überzeugung, daß er eine
Möglichkeit gefunden hatte, um das zeitweilige Bündnis
funktionstüchtig zu halten. Jeden Tag, jede Stunde konnte nun
das Zeitalter der Vernunft dem Corpus Dei mit Waffengewalt
einheizen.
    Zu Cassies Verwunderung war es im Kartenraum der Valparaíso kaum wärmer als auf der
Brückennock. Als sie eintrat, wehte eine große Wolke ihres
Atems über den Resopal-Kartentisch, auf dem eine Karte
Sardiniens lag, schwebte wie die Rauchfahne eines Vulkans, allerdings
nur flüchtig, über der Hauptstadt Cagliari. Zum Glück
hatte irgendwer daran gedacht, Ersatz für die defekten
Heizkörper zu besorgen und einen Privileg-Ölofen
aufgestellt. Sie machte ihn an und besah sich anschließend der
Reihe nach die breiten, flachen Schubladen, bis auf einer Lade ein
Schildchen mit dem Hinweis POLARMEER entdeckte. Sie zog sie heraus.
Die Schublade enthielt über einhundert nördliche Regionen
eisreicher Gewässer – Grönlands Scoresbysund, den
norwegischen Vestfjord, Svalbards Hinlopenstreten, Rußlands
Ostsibirische See –, und erst nachdem sie den Stapel halb
durchgeblättert hatte, fand sie eine Karte, die sowohl den
Polarkreis wie auch die Jan-Mayen-Insel umfaßte.
    Luftangriff erfolgt bei 68°11’N, 2°35’W, hatte in Olivers Fax gestanden, 200 km östl. v.
Startplatz…
    Auf dem Resopal-Tisch breitete Cassie die Karte aus. Sie strotzte
nur so von aufgedruckten Informationen: Tiefenangaben,
Ankerplätze, Wracks, unterseeische Klippen – das
geografische Pendant einer anatomischen Beschreibung, war Cassies
Empfinden, die Bloßlegung der verborgenen Eigenheiten Mutter
Erdes. Sie suchte sich einen Kugelschreiber und nahm auf einem
herumliegenden Bogen Karpag- Briefpapier ein paar Berechnungen
vor. Weil er vor Eisbergen auf der Hut sein mußte, hatte van
Horne vor kurzem die Geschwindigkeit von 9 auf 7 Knoten verringert.
Sieben mal vierundzwanzig: Einhundertachtundsechzig Seemeilen legten
sie täglich zurück. Cassie stellte den Zirkel am
Zentimetermaß so ein, daß der Abstand zwischen den
Spitzen zehn Seemeilen betrug, und führte den Zirkel von der
Position der Valparaíso – 67° nördlicher
Breite, 4° westlicher Länge – zu dem von Oliver
genannten Punkt. Ergebnis: lediglich noch 280 Seemeilen. Falls ihr
Optimismus sie nicht trog, lag der Angriff keine vierundzwanzig
Stunden mehr in der Zukunft.
    »Suchen Sie die Nordwestpassage?«
    Sie

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