Das Grab des Salomon
kreischte die Frau.
Nathan verwarf ihre Besorgnis mit einer Geste seiner freien Hand. »Es geht mir gut«, sagte er mit flüsterleiser Stimme. Aber das stimmte nicht. Er fühlte sich erschöpft. Vielleicht war er gerade auf dem Friedhof gewesen und hatte die Engel betrachtet, ehe er rasch wieder zurückgerannt war. Nein, das ergab keinen Sinn. Es hatte geregnet. Er spähte aus dem Fenster, das plötzlich sehr hoch über ihm zu sein schien. Die Welt draußen präsentierte sich heiter und sonnig.
Jemand schrie. Nathan lag auf dem Boden, und die Kinder verschwanden vollends hinter dem Rock ihrer Mutter. »Wirklich, es geht mir gut«, murmelte er, ehe die Welt schwarz wurde.
Kapitel Zwölf
Nichts an dem Mann, der auf seiner Veranda stand, wirkte bedrohlich, weder sein gepflegtes Äußeres noch das ruhige, freundliche Gebaren. Und dennoch, als Vincent ihm die Hand schüttelte, flammte die Unruhe auf, die ihn die vergangenen Wochen heimgesucht hatte. Vermutlich lag es an den Augen des Mannes. Sie waren blau und klar, wiesen jedoch einen dunklen, leicht verächtlichen Schimmer auf. Ein wissendes Halblächeln spielte um die Lippen des Mannes. Vincent verdrängte das Gefühl und verfluchte seine Paranoia. Kein Wunder, dass die Leute ihn für verrückt hielten.
Johnson tat durch die Tür weiter kläffend sein Missfallen über den Eindringling kund, während Vincent murmelte: »Wie kann ich Ihnen helfen, Mr. Quinn?«
Quinn nickte in Richtung der Tür. »Können wir uns drinnen darüber unterhalten?«
Vincent deutete auf zwei Korbgeflechtstühle auf der kleinen Veranda. Es hatte einen guten Grund, warum Vincent darauf bestand, sich mit Geistlichen und dem Leiter des Bestattungsinstituts der Ortschaft stets auf Friedhofsgelände zu treffen. Jemanden ins Haus, in seine Zuflucht und so nah zu der geheimen Kassette mit seinen Aufzeichnungen und seiner Geschichte zu lassen, fühlte sich zu sehr an, als öffnete er sich für prüfende Blicke. Vincent mochte keine prüfenden Blicke. Der Mann vor ihm hegte nur gute Absichten, davon war er überzeugt, doch das änderte nicht das Geringste. Vincent war zu alt, um überhaupt irgendetwas an seinem Leben zu ändern.
»Mein Hund scheint im Moment etwas nervös zu sein. Am besten reden wir hier draußen.«
Quinn nickte und nahm ohne Einwände auf einem der Stühle Platz. Vincent zog den anderen ein Stück weg, setzte sich und wartete.
»Wie Sie vielleicht wissen, bin ich Großmeister – eigentlich ein recht törichter Titel, wenn ich es mir recht überlege – einer relativ neuen Organisation in der Stadt, des Hillcrest Men‘s Club .«
»Ich habe davon gehört.« Eintrag 798 , dachte er beiläufig. Schon sehnte er sich danach, den Mann loszuwerden, sein Notizbuch zu öffnen und Eintrag 818 anzufertigen: Seltsamer Mann vom Hillcrest Men‘s Club besucht mich .
Quinn beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und warf vereinzelt verärgerte Blicke zur Tür, hinter der Johnson emsig versuchte, ein Loch durch das Holz zu kratzen. »Nun, nachdem wir seit einem halben Jahr offiziell in Hillcrest sind, halten wir es an der Zeit dafür, der Gemeinde etwas zurückzugeben. Wir haben daran gedacht, vielleicht Blumenschmuck auf die Gräber von einheimischen Veteranen zu legen.« Er öffnete die Hände und hielt die Handflächen nach oben. »Das ist das Mindeste, was wir tun können.«
Falls ihm Vincents erschrockene Miene auffiel, zeigte er es nicht. Er lehnte sich lediglich mit hochgezogenen Augenbrauen zurück und wartete auf eine Erwiderung.
Sie wissen es, dachte Vincent. Aber wer soll es wissen? Ein Haufen Trunkenbolde? Es ist bloß eine nette Geste. Der Bursche scheint wirklich kein übler Kerl zu sein.
Gott, schenk mir einen klaren Gedanken .
Er riss sich zusammen, zwang sich, gemessen zu atmen, und tat es Quinn gleich, indem er sich auf dem Stuhl zurücklehnte. Unabhängig davon, dass seine Paranoia letztlich überzuborden schien, musste Vincent wachsam bleiben. Insbesondere musste er sich normal verhalten!
»Das ist ohne Frage eine nette Geste«, meinte er, spürte, wie er rot anlief, und hoffte, sein Gegenüber würde es nicht bemerken. »Aber im Allgemeinen machen das die Pfadfinder. Das ist eine Voraussetzung für ein Verdienstabzeichen.«
Quinn schaute nachdenklich drein, dann nickte er knapp. »Ja, ich dachte mir schon, dass das der Fall sein könnte. Allerdings machen sie das in der Regel am Veteranentag. Wenn ich mich nicht irre, ist der erst in zwei Monaten.
Weitere Kostenlose Bücher