Das Grab im Moor
auf die Bühne trat. Sie strahlte vor Glück, ihre Wangen glühten vor Aufregung und sie tanzte über die Bühne, ohne zu wissen, was gerade eben geschehen war.
›Na?‹, rief sie. ›Wie findet ihr das?‹
Einer der Schauspieler trat zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Arm.
›Es tut mir leid, Ingrid – aus dem Stück wird nichts …‹
Doch da stand August Ekehorn auf.
›Albernes Geschwätz‹, sagte er. ›Macht euch für die Probe fertig.‹
Er hatte das Glück in Ingrids Augen funkeln sehen und er brachte es einfach nicht über sich, dieses Feuer zu löschen.
Glückstrahlend sah Ingrid ihn an, während die Hebamme kopfschüttelnd das Theater verließ.
Der Silvesterabend kam und mit ihm der Tag der Premiere. Das Ensemble war nervös. Natürlich fragten sie sich, wie die Vorstellung laufen und was das Publikum von ihrer Darbietung halten würde, aber vor allem hatten sie Angst vor dem Fluch. Würde August Ekehorns Herz mit der Anstrengung fertig werden?
Draußen tobte ein heftiger Sturm. Und obwohl Schnee und Regen von dem schwarzen Himmel herunterpeitschten und der Wind an allem zerrte, was er zu fassen bekam, war das Theater bis auf den letzten Platz besetzt.
Auch eine große Gruppe von Hundarö, Kinder und Erwachsene, war gekommen und hatte sich auf den hinteren Bänken niedergelassen. Ingrids Familie und Verwandte. Sie waren still und ernst, wie es für die Menschen von Hundarö so typisch war, und nach der Überfahrt in dem schweren Sturm waren sie durchnässt und blaugefroren.
Ingrid war überglücklich. Sie hatten trotz des Wetters die Fahrt über das eisige Meer auf sich genommen, nur um ihr beim Theaterspielen zuzusehen! Sie winkte ihnen aus den Kulissen zu, doch ihre Familie schien sie nicht zu bemerken.
Dann verstummte das Gemurmel im Saal und das Schauspiel begann. Ingrid war eine glänzende Lilly. Sie sah wunderschön aus und brachte das Publikum zum Lachen, um ihnen gleich darauf Tränen der Rührung in die Augen zu treiben.
Hinter den Kulissen waren alle angespannt und aufgeregt. Aber je länger das Stück lief, umso ruhiger wurden sie. Kein Geist ließ sich blicken und keine Bühnendekoration drohte herabzustürzen oder jemanden zu verletzen – und August Ekehorns Herz schlug ruhig und regelmäßig.
Doch das Wichtigste von allem war: die Zuschauer liebten das Stück. Sie lachten vor Freude und schrien vor Entsetzen, trampelten mit den Füßen und applaudierten. Es war unmöglich, sich nicht von ihrer Begeisterung anstecken zu lassen.
Die Stimmung war auf dem Höhepunkt und das ganze Ensemble war überglücklich. Sie hatten den Fluch überlistet. Während dieser Aufführung von Ein Haus am Meer hatte niemand sterben müssen.
Als das Stück zu Ende war, wollte der Applaus kein Ende nehmen. Die Theatertruppe versammelte sich auf der Bühne und nahm den Jubel des Publikums entgegen. Wieder und wieder verbeugten sie sich.
Aber just in dem Augenblick, in dem die Ersten nach und nach den Saal verlassen wollten, während die meisten noch dastanden und klatschten, stürmte ein Junge in den Saal.
›Sie sind im Sturm untergegangen!‹, schrie er. ›Das Boot ist gesunken – mit Mann und Maus!‹
Alle sahen ihn verwundert an. Was redete er da? An diesem Abend waren doch keine Boote draußen? Es waren doch alle hier, alle hatten sich doch das Theaterstück angesehen.
›Das Boot aus Hundarö!‹, fuhr der Junge aufgeregt fort. ›Sie sind auf der Fahrt hierher im Sturm gesunken!‹
Mit einem Mal wurde es totenstill. Alle Blicke wanderten zu den leeren Bänken ganz hinten im Saal. Dort, wo die Gesellschaft von Hundarö gesessen hatte, waren noch immer Pfützen und nasse Flecken zu sehen, aber die Familie war verschwunden. Auf dem Boden lagen Tangfäden und etwas Seegras. Ein kalter Windhauch zog durch den Saal und langsam begriffen alle, was geschehen sein musste – auch wenn es eigentlich nicht zu begreifen war. Die Gesellschaft von Hundarö war im Sturm ertrunken und doch waren ihre Seelen ins Theater gekommen. Plötzlich erinnerten sich die Leute im Publikum daran, wie seltsam blau und lila sie vor Kälte ausgesehen und dass sie nach Meer und Nebel gerochen hatten. Wie leer und starr ihre Blicke gewesen waren.
Oben auf der Bühne stand die versammelte Theatertruppe und sah sich schweigend an. Ingrid war leichenblass auf die Knie gesunken. Sie wimmerte, als ihr die Wahrheit zu Bewusstsein kam.
August Ekehorn griff sich ans Herz. Er hätte auf die Hebamme hören
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